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Übersicht über die Kapitel bei Gieseler:
Vorrede
Erster Theil: Ueber die Entstehung der schriftlichen Evangelien. (S. 1)
    Einleitung. (S. 1)
    §. 1. Kurze Darstellung des Verhältnisses der drei ersten canon. Evangelien zu einander. (S. 3)
    §. 2. Characteristik der ältesten apocryphischen Evangelien. (S. 8)
    §. 3. Evangelische Stellen in den Reden und Briefen der Apostel. (S. 26)
    §. 4. Gedrängte Uebersicht der bisherigen Versuche, die Entstehung der Evangelien zu erklären. (S. 30)
    §. 5. In dem frühesten apostolischen Zeitalter ist das Evangelium zum Behuf der Lehrvorträge nicht aufgeschrieben, sondern nur mündlich fortgepflanzt. (S. 53)
    §. 6. Es bildeten sich unter den Aposteln sehr früh gleiche Erzählungsformen des Evangelii. (S. 82)
    §. 7. Ueber die Art, wie sich unter den Aposteln ein gleichförmiges mündliches Evangelium ausbildete. (S. 92)
    §. 8. Ueber die Fortpflanzung des Evangelii als paradosij, nebst einigen historischen Parallelen. (S. 104)
    §. 9. Pauli Evangelium. (S. 111)
    §. 10. Uebersetzung des Evangelii ins Griechische. - Evangelium der Beschneidung und Evangelium der Vorhaut. (S. 113)
    §. 11. Niederschreibung des Evangelii. (S. 116)
    §. 12. Die Polloi des Lucas (S. 118)
    §. 13. Niederschreibung unserer drei ersten canonischen Evangelien. (S. 120)
    §. 14. Aelteste apocryphische Evangelien. (S. 130)
    §. 15. Das Evangelium Johannis. (S. 133)
Zweiter Theil: Ueber den Gebrauch der schriftlichen Evangelien in der ersten Kirche, und der Canonisirung unserer vier Evangelien. (S. 142)
    Einleitung (S. 142)
    §. 1. Frühere Untersuchungen über diesen Gegenstand. (S. 143)
    §. 2. Die älteste Kirche gebrauchte keine Syngraphen des Evangeliums als kirchliche Schriften, sondern blieb bei der mündlichen Tradition. (S. 149)
    §. 3. Ueber die ersten Spuren von dem Gebrauche schriftlicher Evangelien bei Orthodoxen. (S. 179)
    §. 4. Ueber die Sammlung und kirchliche Einführung der vier Evangelien. (S. 190)
 
 


Historisch=kritischer Versuch

über die

Entstehung und die frühesten Schicksale

der

schriftlichen Evangelien.
 
 
 
 

Von

Dr. Johann Carl Ludwig Gieseler,

Conrector am Gymnasio zu Minden.
 
 
 
 

Leipzig, 1818

bei Wilhelm Engelmann.



i

Vorrede

Die nicht ungünstigen Beurtheilungen, deren sich mein Aufsatz: "Ueber die Entstehung und die frühesten Schicksale der schriftlichen Evangelien," in den Analecten von Keil und Tzschirner (Bd. 3. St. 1.) zu erfreuen gehabt hat, haben mir den Muth gegeben, meine dort geäußerten Ansichten noch weiter zu verfolgen. So ist diese kleine Schrift erwachsen, deren ersten Theil jener Aufsatz ausmacht, nachdem derselbe ganz von neuem durchgearbeitet, mit vielen Bemerkungen bereichert, und insbesondere durch eine Uebersicht der bisher über die Entstehung der Evangelien aufgestellten Hypothesen und durch einen Abschnitt über das Evangelium Johannis erweitert ist. Der zweite Theil ist ganz von neuem hinzugefügt.


ii

    Wenige Gegenstände der theologischen Wissenschaft sind so oft und so gründlich bearbeitet, wie der, welcher im ersten Theile behandelt wird. Je mehr ich von hoher Achtung gegen meine Vorgänger durchdrungen bin, und je tiefer ich es fühle, was ich ihren Schriften verdanke; desto anspruchsloser trete ich mit diesem Versuche hervor, und desto mehr bitte ich um nachsichtsvolle Aufnahme und Beurtheilung dieser Schrift.

Der Verfasser.

1

E r st e r  T h e i l.

Ueber die Entstehung der schriftlichen Evangelien.

E i n l e i t u n g.

Unter den vielen wichtigen Begebenheiten, welche die älteste Kirchengeschichte kurz übergeht, und deren Erklärung sie als Räthsel der Nachwelt aufgiebt, ist gewiß eine der wichtigsten die Entstehung der schriftlichen Evangelien. Schon an sich ist es einflußreich für die Geschichte, zu erfahren, wodurch die Abfassung dieser späterhin so wichtigen Schriften veranlaßt; auf welche Art und aus welchen Quellen sie verfaßt; wie sie von ihren christlichen Zeitgenossen, wie von den nächsten Geschlechtern aufgenommen wurden; aber alle diese Fragen gewinnen sowohl an Interesse, als an Schwierigkeit, wenn man dabei auf das auffallende innere Verhältniß der Evangelien unter sich Rücksicht nimmt, welches doch in der Art ihrer Entstehung gegründet seyn und aus derselben erklärt werden muß.
    Man muß sich gleich im Anfange bescheiden, daß man, so verschiedene Wege man auch zur Erklärung dieser Dunkelheiten einschlagen mag, bei dem Unzureichenden der historischen Nachrichten doch nie zu vollkommener Gewißheit, sondern nur zu der Wahrscheinlichkeit gelangen kann, welcher historische Conjecturen überhaupt fähig sind.


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    Da die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit einer jeden historischen Conjectur davon abhängt, ob und wie sie den nothwendig an sie zu machenden historischen Forderungen genüge; so ist es nöthig, mit der Aufstellung dieser Forderungen zu beginnen.
    D i e  E r st e  geht aus der Beschaffenheit der Evangelien selbst hervor. Eine Conjectur über die Entstehung der Evangelien, die auf Wahrscheinlichkeit Anspruch machen will, muß das innere Verhältniß der Evangelien unter sich vollständig erklären.
    Da aber verschiedene äußere Beziehungen der Schriftsteller gedacht werden können, durch welche jenes Verhältniß an sich betrachtet gleich gut erklärt werden kann; so muß die Geschichte die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit der verschiedenen Conjecturen bestimmen. Sie giebt Einer den Vorzug, je nachdem diese
    a) mit dem allgemeine Geiste des Urchristenthums am meisten übereinstimmt;
    b) sich an vorhergegangene und nachfolgende Erscheinungen am genauesten anknüpft;
    c) die vorhandenen alten Nachrichten über die Entstehung der Evangelien befriedigend erklärt, sie entweder treffend mit sich vereiniget, oder ihren Ungrund genügend darthut.
    Nach diesen Forderungen muß also die Untersuchung mit der Darstellung des innern Verhältnisses der Evangelien zu einander, als des zu Erklärenden, anfangen, bei der Erklärung selbst aber jene historischen Bedingungen stets fest im Auge behalten.

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§. 1.

K u r z e  D a r s t e l l u n g  d e s  V e r h ä l t n i s s e s  d e r  d r e i  e r st e n  c a n o n.  E v a n g e l i e n  z u  e i n a n d e r.

Allen drei Evangelien sind 42 Abschnitte gemein, Matthäus und Marcus haben außerdem 12, Marcus und Lucas 5, Matthäus und Lucas 14 Abschnitte mit einander gemein, die dem rücksichtlich dritten Evangelisten fehlen. Endlich haben Matthäus 5, Marcus 2, Lucas 9 Abschnitte ganz eigenthümlich.
    Marcus und Lucas haben ihre gemeinschaftlichen Abschnitte in derselben Reihenfolge, indem jeder nur das ihm Eigenthümliche dazwischen schiebt. Nur in zwei Stellen weichen sie in der Ordnung gemeinschaftlicher Abschnitte von einander ab *). Matthäus hat hingegen bis zum Ende des 13. Cap. meist eine andere Ordnung der Erzählungen, als die beiden andern Evangelisten; vom Anfange des 14. Cap. aber fängt er an, in genauer Harmonie mit ihnen die gemeinschaftlichen Erzählungen zu ordnen.
    Allgemeine Aussprüche Jesu finden sich indeß höchst verschieden zu den Begebenheiten vertheilt. Ein Beleg

    *) Den Abschnitt Marcus 3, 21-30 hat Lucas erst 11, 14-23. Die Erzählung von der Ankunft der Mutter und der Brüder Jesu steht bei Marcus 3, 31-35. vor dem Gleichnisse vom Säemann, bei Lucas 8, 19-21. nach demselben.


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dazu ist die Bergpredigt des Matthäus, von der einzelne Stücke bei den andern Evangelisten an andern Orten zerstreut sind.
    Die Sprache aller drei Evangelien ist ein hebraizierendes Griechisch. Marcus hat die meisten Hebraismen, Lucas die wenigsten. In den gemeinschaftlichen Abschnitten haben Matthäus und Marcus gewöhnlich dieselbe Ideenfolge, und treffen häufig wörtlich zusammen. Lucas hat zwar meistentheils mit ihnen gleiche Ideenfolge, verbindet aber damit einen abweichendern, gewöhnlich mehr griechischen Ausdruck. Doch fehlt es auch, besonders in einzelnen Reden Jesu oder Anderer nicht an Stellen, wo er mit den andern Evangelisten wörtlich zusammentrifft. Insbesondere merkwürdig ist die wörtliche Uebereinstimmung der Evangelisten unter sich in manchen Citaten des A. T., wobei sie weder dem hebr. Texte noch der LXX. genau folgen.
    Mit diesen großen Aehnlichkeiten verbinden sich indeß in manchen Erzählungen nicht eine consequente Aehnlichkeit oder Verschiedenheit. Häufig treffen dieselben in einzelnen Gedanken wörtlich zusammen, und verlassen sich in demselben Augenblicke wieder, um abweichende Gedanken aufzunehmen, oder gemeinschaftliche verschieden auszudrücken.
    Wenn also die gemeinschaftlichen Erzählungen in Hinsicht der Aehnlichkeit des Sachinhalts, der Gedankenfolge und des Ausdrucks in eine genaue Ordnung ge=


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bracht werden sollten; so würde eine Stufenleiter von beinahe eben so vielen Stufen, als gemeinschaftliche Erzählungen sind, entstehen, welche von wörtlicher Uebereinstimmung bis zu den beträchtlichsten Abweichungen in jenen drei Rücksichten fortführte.
    Indessen lassen sich gewissen Hauptgesichtspunkte bemerken, nach welchen die verschiedenen Verhältnisse der Darstellungen zu einander näher bestimmt werden können.
    1) In Rücksicht auf die Zeitfolge ist der Anfang und das Ende, oder die Erzählungen aus den Zeiten vor der Taufe und nach dem Begräbnisse am meisten verschieden. Matthäus und Lucas, die allein die Jugendgeschichte Jesu in ihren Plan mit aufgenommen haben, theilen nur eine gemeinschaftliche Erzählung in derselben mit, und auch diese - die von den Magiern bei dem Matthäus, von den Hirten beim Lucas - wird höchst verschieden bei ihnen dargestellt.
    Mit der Erzählung von Johannes dem Täufer beginnt erst das oben näher beschriebene Verhältniß der Darstellung. Bei den Erzählungen von den letzten Schicksalen Jesu bis zu seinem Begräbnisse erreicht die Darstellung besonders beim Matthäus und Marcus den höchsten Grad der Aehnlichkeit; von da an beginnt wieder eine größere Verschiedenheit. Nur die Erzählung von den nach dem Grabe gehenden Weibern ist allen in gleicher Ausführlichkeit gemein, aber der Ausdruck ist auch hier viel abweichender und trifft nur selten in einzelnen Worten zusammen *).

    *) S. die nach dieser Rücksicht angestellte Vergleichung in Schmidts hist. krit. Einleitung ins N. T. Bd. 1. S. 82-98.


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    2) In Hinsicht auf die redenden Personen bestehen die Evangelien theils aus Erzählungen in der Person des Verfassers vorgetragen, theils aus eingeflochtenen Reden Jesu und Anderer.
    Was zuerst jene betrifft, so findet sich hier die größte Abweichung in den Uebergangs= und Bindungsformeln, wodurch die einzelnen Erzählungen an einander geknüpft sind. Dagegen läßt es sich bemerken, daß, je wichtiger eine Begebenheit den Schülern Jesu erscheinen mußte, sie mit desto übereinstimmenderm Ausdrucke erzählt wird.
    Z. B. Berufung der 4 ersten Jünger (Matth. 4, 18. Marc. 1, 14.); des Matthäus (Matth. 9, 10. Marc. 2, 15. Luc. 5, 35.); Verklärung Jesu auf dem Berge (Matth. 17, 1. Marc. 9, 2. Luc. 9, 35.).
    Deshalb findet man auch in andern Erzählungen, daß sie, in ihrem Anfange wenig harmonirend, je näher sie der Hauptsache kommen, desto mehr im Ausdrucke zusammentreffen, und daß die Haupthandlung selbst mit völlig gleichen Worten vorgetragen wird.
    Z.B. die Heilung eines Aussätzigen, wo in folgenden Worten die höchste Gleichheit ist (Matth. 8, 3. Marc. 1, 41. Luc. 5, 13.): Kai ekteinaj thn xeira hyato autou o Ihsouj legwn: qelw kaqarisqhti: kai euqewj aphlqen ap )autou h lepra. Die Speisung der 5000, wo die Uebereinstimmung am stärksten ist (Matth. 14, 19. 20. Marc. 6, 41. 42. Luc. 9, 16. 17.): labwn touj pente artouj kai touj duo ixquaj anableyaj eij ton ouranon euloghse kai klasaj edwke toij maqhtaij - - - kai efagon pantej kai exortasqhsan.


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    Dagegen weichen viele andere Erzählungen von einander ab, entweder im  A u s d r u ck e,  welches insbesondere die allgemeinen Erzählungen trifft (cf. Matth. 12, 15. 16. Marc. 3, 7-12. Luc. 6, 17-19), oder in der  A u f f a s s u n g  der Begebenheiten (cf. Matth. 22, 35., wo der fragende Schriftgelehrte als Versucher, Marc. 12, 34, wo er als frommer Mann genommen wird), oder in der  B e st i m m u n g  e i n z e l n e r  U m st ä n d e  (Matth. 20, 29.  z w e i  Blinde  h i n t e r  Jericho, Marc. 10, 46. Luc. 8, 35.  e i n  Blinder  v o r  Jericho).
    In den angeführten Reden anderer Personen, insbesondere in den Reden Jesu, ist die Uebereinstimmung unverkennbar größer, als in den eigenen Erzählungen der Evangelisten. Selbst wenn die einleitenden Begebenheiten mit verschiedenem Ausdrucke erzählt waren, so treffen dennoch die angeführten Worte Anderer gewöhnlich zusammen. Indessen ist auch in den Reden Jesu die Uebereinstimmung nicht überall gleich groß, und auch hier gilt die Bemerkung, daß dieselben nach dem Grade, wie sie den Jüngern characteristischer und wichtiger erscheinen mußten, desto übereinstimmender erzählt werden.
    Daher findet sich unter den Weissagungen die höchste Uebereinstimmung des Ausdrucks:
    Z. B. Matth. 11, 21.  Luc. 10, 31. (das Wehe über Chorazin etc.).
        Matth. 22, 37.  Luc. 13, 34. (über Jerusalem).
        Matth. 20, 18.  Marc. 10, 33.
        Matth. 26, 21.  Marc. 14, 18.
        Matth. 26, 29.  Marc. 14, 25.  Luc. 22, 18. (Vorherverkündigungen seines eigenen Schicksals).


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    Eben so gleichförmig sind die Erklärungen in Bezug auf seine Person und seinen Zweck ausgedrückt:
    Z. B. Matth. 11, 25-27.  Luc. 10, 21. 22. (Vor den Weisen ist dieses verborgen - Alles ist mir übergeben).
    Matth. 16, 24-26.  Marc. 8, 34-37.  Luc. 9, 23-25. (Erfordernisse zu einem Jünger Jesu).
    Matth. 22, 44.  Marc. 12, 36.  Luc. 20, 42. (Wie der Messias Davids Sohn heißen könne?).
    Unter den Parabeln werden zwar auch Einige wörtlich übereinstimmend erzählt (z. B. von dem Säemann Matth. 13, 3-8.  Marc. 4, 3-8.); Andere sind aber von den Evangelisten verschieden aufgefaßt (z. B. Matth. 18, 12. bezieht die Parabel vom verlornen Schaafe auf Kinder; Luc. 15, 4. auf Sünder); Andere zwar gleich aufgefaßt, aber verschieden dargestellt (z. B. die Parabel von dem Gastmahle. Matth. 22, 1.  Luc. 14, 16.).

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§. 2.

C h a r a c t e r i st i k  d e r  ä l t e st e n  a p o c r y p h i s ch e n  E v a n g e l i e n.

    Außer unsern canonischen Evangelien gab es im Alterthume eine so große Menge anderer Evangelien, daß wir nach den Aeußerungen der Kirchenväter nur den kleinsten Theil von denselben zu kennen glauben müssen *).

    *) Iren. 1, 17. redet von einer Inenarrabilis multitudo apocryphorum et perperam scripturarum.  Orig. ad Luc. 1, 1. rechnet viele apocryph. Evangelien her und setzt hinzu: alia plura legimus.  Hieron. prooem. in comm. super Matth. illud juxta Aegyptios et Matthiam et Bartholomaeum duodecimque Apostolorum et Basilidis atque Apellis ac reliquorum, quas enumerare longissimum est.


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Da alle diejenigen, von denen uns Notizen und Fragmente übrig geblieben sind, wegen äußerer Umstände eine gewisse Celebrität in der christlichen Welt besaßen, so dürfen wir muthmaßen, daß jene noch größere Zahl blos deswegen in der Geschichte ganz verwischt ist, weil sie auf kleinere Kreise und geringere Wirksamkeit eingeschränkt blieb, bis sie von den canonischen Evangelien ganz verdrängt wurde.
    Alle diese älteren Evangelien - denn von den Apocryphen, die uns noch ganz erhalten sind, und die sich selbst deutlich genug als Producte einer jüngern Zeit ankündigen, kann hier nicht die Rede seyn - alle die älteren Evangelien, vondenen uns noch Notizen und Fragmente übrig sind, standen zu unsern drei ersten Evangelien in einem ähnlichen Verhältnisse, wie diese unter sich. Dieß lehrt theils eine Vergleichung der vorhandenen Bruchstücke, theils geht es aus den häufigen Versicherungen der Kirchenväter hervor, daß jene Apocryphen nur verfälschte canonische Evangelien, oder daß sie mit denselben identisch seyen.
    Die uns jetzt noch näher bekannten Evangelien sind folgende:
    1. [sic] Die Evangelien  k a q '  E b r a i o u j.  Die Alten reden nur von Einem Evangelium der Hebräer, führen als synonyme Benennungen desselben an evang. sec. Apostolos, sec. Syros, Nazarenorum und Ebionitarum *),

    *) Euseb. h. e. IV, 22. to kaq' Ebraiouj euaggelion kai to Suriakon.
        Hier. adv. Pelag. III, 1. Evang. juxta Hebraeos, quod Chaldaico quidem Syroque sermone sed hebraicis literis scri-


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und behaupten, daß es ein etwas verändertes Evangelium Matthäi gewesen sey. Indeß gebrauchten wahrscheinlich die verschiedenen Partheien der hebräischen Christen wenn auch ähnliche doch verschiedene modificirte Evangelien, welche die Namen sec. Hebraeos und sec. Apostolos gemein hatten. Insbesondere läßt sich dieß aus den Characteristiken der Evangelien der Nazaräer und Ebioniten beim Epiphanius schließen, aus denen deutlich genug eine Verschiedenheit derselben hervorgeht. Hieronymus eben angeführte Stelle, worin er sagt, daß die Nazaräer und Ebioniten das Evangelium der Hebräer gebrauchten, beweist schwerlich etwas dagegen. Er kannte nur das Evangelium der Nazaräer (welches er in Beröa und in der Bibliothek des Pamphilus in Cäsarea fand), und war ein zu eifriger Orthodox, um durch Verbindungen mit den ketzerischen Ebioniten sich die Kenntniß ihres Evangeliums zu verschaffen. Er folgte also nur dem Gerüchte, nach welchem die Ebioniten auch ein hebr. Evangelium hatten, und trug so wenig Bedenken, dieß mit dem hebr. Evangelium der Nazaräer zu identificiren, wie andere Kirchenväter, in beiden Evangelien den catholischen Matthäus zu finden.
    Verschiedene Evangelienbücher dieser Classe sind also:
    a)  D a s  E v a n g e l i u m  d e r  N a z a r ä e r  nach Epiphanius ein übervollständiges Evangelium des Mat=

ptum est, quo utuntur usque hodie Nazareni, secundum Apostolos sive ut plerique autumant juxta Matthaeum.
        Id. comm. in Matth. lib. 2. ad Matth. 12, 13. Evangelium, quo utuntur Nazareni et Ebionitae, quod nuper in Graecum de Hebraeo sermone transtulimus et quod vocatur a plerisque Matthaei authenticum.


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thäus *). Epiphanius scheint es nicht vor sich gehabt zu haben, als er schrieb, denn er bekennt, es nicht zu wissen, ob dasselbe das Geschlechtsregister Jesu enthalten habe **). Hieronymus fand es in Beröa und Casarea [sic] und übersetzte es ins Lateinische. Da er es also aufs genaueste kannte, so muß der Umstand, daß er zweimal zu Stellen des 2. Capitels Matthäi Parallelen aus diesem Evangelio anführt ***), für einen Beweis gelten, daß dasselbe auch die Abschnitte enthielt, welche Matthäus in seinen 2 ersten Capiteln erzählt. Die Stellen, die Hieronymus aus dem evangel. Hebraeorum anführt, sind aus diesem evangel. Nazarenorum und eine Vergleichung derselben mit den Parallelstellen unseres canonischen Matthäus rechtfertigt hinlänglich das obige Urtheil des Epiphanius +). Außerdem hatte dasselbe aber viele Stellen, zu denen unser Matthäus keine Parallelen liefert. Eine ist uns noch übrig, welche sich, obgleich mit anderm Ausdrucke, auch noch beim Lucas findet ++).
    b)  D a s  E v a n g e l i u m  d e r  E b i o n i t e n  nach

    *) Epiphan. haer. 29. §. 9. exousi de to kata Matqaion euaggelion plhrestaton ebrai"sti.
    **) Epiph. l. c. ouk oida de, ei kai taj genealogiaj taj apo tou Abraam axri Xristou perieilon.
    ***) Hier. in quaest. adv. Matth. 2, 6. und catal. viror. illustr. v. Matthaeus.
    +) Eichh. Einl. ins N. T. Th. 1. S. 28. 35.
    ++) Die Stelle beim Ignat. epist. ad Smyrn. 3. labete, yhlafhsete kai idete, oti ouk eimi daimonion aswmaton (cf. Luc. 24, 39.) fand sich nach Hieron. catal. s. v. Ignat. in dem Evangelio der Nazaräer.


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Epiphanius ebenfalls ein euaggelion kata Matqaion *), von den Ebioniten selbst aber kaq' Ebraiouj **) genannt. Es fehlten in ihm die beiden ersten Cap. des Matthäus, und es fing mit Matth. 3, 1. an ***). Wenn Epiphanius es als unvollständig characterisirt, so bezieht sich dieß nicht auf seine kurze, mangelhafte Darstellungsart, sondern auf die Auslassung mehrerer Abschnitte des catholischen Matthäus. Wenn wir nach Epiphanius Citaten, die freilich sehr ungenau sind ****), urtheilen dürfen, so war die Darstellung selbst weit umständlicher, als in unsern canon. Evangelien. Außerdem ist zu bemerken, daß eine noch übrige Stelle desselben sich nur noch beim Lucas findet +).
    c)  D a s  E v a n g e l i u m  d e r  E l c e s a i t e n  war nach Epiphanius das Evangelium Matthäi, von ihnen aber to Ebrai"kon genannt ++). Da er keinen Wink giebt, daß es mit dem von ihm anderweitig beschriebenen Evangelium der Ebioniten einerlei sey, so dürfen wir auch in demselben ein, wenn auch diesem ähnliches, doch nicht mit ihm identisches Evangelium vermuthen.
    2)  D a s  E v a n g e l i u m  k a t a  P e t r o n.  Obgleich wir nur sehr wenige Data zur Beurtheilung dieses

    *) Epiph. haer. 30. §. 13. en tw goun par' autoij euaggeliw kata Matqaion onomazomenw, oux olw de plhrestatw alla nenoqau[?]menw kai hkrwthriaimenw k. t. l.
    **) l. c. §. 3.
    ***) l. c. §. 13.
    ****) Er citirt namentlich den Anfang des Evangeliums zweimal §. 13 und §. 14 mit bedeutenden Abweichungen.
    +) Epiph. haer. 30. §. 22. mh epiqumia epequmhsa krean touto to pasxa fagein meq' umwn; (cf. Luc. 22, 15.).
    ++) l. c. §. 3.


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Evangeliums haben, so reichen dieselben doch hin, zu erkennen, daß dasselbe den Evangelien kaq' Ebr. nahe verwandt gewesen seyn muß. Insbesondere gehört hierher die Behauptung des Theodoret, daß die Nazaräer dieses Evangelium gebrauchten *), die wenigstens, analog mit ähnlichen Aeußerungen der Kirchenväter beurtheilt, auf eine Verwandtschaft dieses Evangeliums mit dem der Nazaräer schließen läßt. Diese bestätigt sich dadurch, daß Origenes in seinem Commentare zu Matth. 13, 54-56 dieß Evangelium mit der Tradition der Hebräer als gleichartig zusammenstellt **). Ferner: die Stelle des Ignatius epist. ad Smyrn. 3. labete, yhlafhsete kai idete oti ouk eimi daimonion aswmaton wird vom Hieronymus ***) aus dem Evangelio der Nazaräer, von dem Origenes +) hingegen aus der didaxh Petrou abgeleitet. Das letztere Buch enthielt also evangelische Nachrichten. Dürfen wir nun daraus schließen, daß es mit dem Evangelio Petri eins gewesen sey, so wäre obige Stelle eine Probe der Uebereinstimmung dieses Evangelii mit dem der Nazaräer. Daß es von Doketen vorzüglich gebraucht sey, spricht nicht dagegen. Serapion selbst, der es in dieser Hinsicht untersuchte, sagt, daß das Meiste richtige

    *) Theod. haer. fab. comp. II, 2. oi de Nazaraioi - - tw kaloumenw kata  Petron euaggeliw kexrhmenoi k. t. l.
    **) Orig. ad Matth. 13, 54-56. Existimabant igitur illum esse Ioseph et Mariae filium. Fratres autem Iesu putabant nonnulli esse, ex traditione Hebraeorum sumpta occasione, ex Evangelio quod titulum habet juxta Petrum, aut ex libro Iacobi, filios Ioseph ex priore uxore etc.
    ***) Hieron. catal. s. v. Ignatius.
    +) Orig. de princ. I. prooem.


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Lehre Jesu und nur einiges verdreht sey *). So waren nach dem Urtheile der Orthodoxen die meisten Evangelien der Ketzer beschaffen, ohne daß sie dadurch aufgehört hätten, einem der canonischen Evangelien ähnlich zu seyn.
    3) Die apomnhmoneumata twn Apostolwn **) bei dem Justinus Martyr, die bei ihm auch unter den Namen apomnhmoneumata ***), apomnhm. autou (i. e. Xristou) ****), euaggelia +) und euaggelion ++) vorkommen, nach seiner Versicherung von den Aposteln und deren Nachfolgern geschrieben waren +++), und in den Versammlungen der Christen gelesen wurden ++++). Nach den von ihm erhaltenen Fragmenten zu urtheilen, hatten diese apomnhmon. eine sehr vollständige Jugendgeschichte Jesu, harmonirten in einzelnen Stellen wörtlich mit Matthäus, entfernten sich aber häufiger von demselben durch eine kürzere und abgebrochenere Darstellung, enthielten auch einzelne, dem Lucas eigenthümliche Abschnitte, außerdem viele Stellen, die sich in unsern Evangelien nicht finden, aber nichts von dem, was dem Marcus und Johannes eigenthümlich ist. Bei diesen we=

    *) Serap. ap. Euseb. VI. c. 12. ta men pleiona ton orqou logou tou swthroj, tina de proj diestalmena.
    **) Apol. II. (ed. Paris. 1636.) p. 68. Dial. c. Tryph. p. 332.
    ***) Dial. c. Tr. l. c.
    ****) ibid. p. 333.
    +) Apol. II. p. 98.
    ++) Dial. c. Tryph. p. 326.
    +++) Dial. c. Tryph. p. 331. apomnhmoneumata, a fhmi upo twn Apostolwn autou kai twn ekeinoij para kolouqhsantwn suntetaxqai.
    ++++) Apol. II. p. 98.


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nigen Daten zur Bestimmung, wie dieses Evangelium beschaffen gewesen und wie es entstanden sey, war es unvermeidlich, daß darüber die verschiedensten Meinungen geäußert wurden. Die alte Meinung, daß Justin unsere 4 Evangelien gebraucht habe, ist neuerdings wieder von  S ch ü tz *)  und  M y n st e r **)  vertheidigt; indeß scheinen alle Gegengründe nicht hinlänglich beseitigt werden zu können. Denn es bleibt immer auffallend, daß Justin, der sonst  g e w ö h n l i ch  seinen Citationen aus fremden Schriften den Namen des Verfassers zusetzt, niemals einen Verfasser seines Evangeliums nennt. Noch weniger ist die Consequenz erklärbar, womit er mehreremal dieselben Stellen gleich abweichend von den Parallelstellen unserer canonischen Evangelien citirt ***). Der Plural euaggelia, den er an einer Stelle gebraucht +), entscheidet noch nicht für die Mehrheit seiner Evangelien. Auch andere Kirchenväter gebrauchen das Wort Evangelium von einer  e i n z e l n e n  Erzählung des Evangelii ++), einem apomnhmoneuma, und in

    *) D.  Fr.  S c h ü t z,  de evangeliis, quae ante evang. canon. in usu eccl. Christ. fuisse dicuntur. diss. pars post. pag. 1. Regiom. 1812.
    **) J.  P.  M y n st e r  (Prediger in Copenhagen) über den Gebrauch, den Justin d. Märt. von unsern Evangelienbüchern gemacht hat, in: Videnskabelige Forhandliger ved Siaellands Stifts Landemode, herausgegeben von Hjort und Mönster. Kopenh. 1r Bd. S. 126-167. (1811).
    ***) Matth. 3, 17. cf. Dial. c. Tryph. p. 316 und p. 331.  Matth. 7, 15 cf. Dial. c. Tr. p. 253 und Apol. II. p. 64.
    +) Apol. II. p. 98. oi gar apostoloi en toij genomenoij up' autwn apomnhmoneumasin, a( kaleitai euaggelia, outwj paredwkan.
    ++) cf. Iren. III, 15. operatus est Deus plurima evangelia ostendi per Lucam.


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diesem Sinne kann Evangelia einerlei seyn mit Evangelium. Da nun Justin in jener Stelle die Plurale apomnhmoneumata und euaggelia als Synonyme zusammenstellt, sonst aber nur von Einem euaggelion redet, so ist es um so wahrscheinlicher, daß er das Wort in jenem Sinne genommen habe. Wenn Justin ferner behauptet, daß sein Evangelium von den Aposteln und ihren Schülern herrühre, so kann derselbe Mißverstand zum Grunde liegen, der die Marcioniten bewog, zu behaupten, ihr Evangelium sey von Christus selbst verfaßt, und später von Paulus vollendet *). Wegen den besondern Benennungen und den abweichenden Citaten dieses justinischen Evangelii haben daher Andere es für verschieden von unsern canonischen Evangelien gehalten. S t r o t h,  S t o r r  und  W e b e r **) halten es für das Evangelium der He=

    *) Orig. dial. c. Marcion. I. pag. 534.  Adam.  Quisnam est, qui evangelium litteris commendavit, quod unum esse praedicas? Megeth.  Christus.  Adam.  Quid? scripsitne ipsemet: in crucem affixus eram etc.?  Megeth.  Paulus Apostolus illud addidit.  Die Namen "evangelium Christi" oder "evangelium Apostolorum," welche das Evangelium überhaupt, insofern es ächt war, führte (cf. Orig. praef. in ev. Ioann. 164. G.  Ad haec et illud de evangelio sciamus necesse est, evangelium inprimis esse Iesu Christi, qui est caput totius corporis eorum qui servantur, dicente Marco: initium evangelii Iesu Christi, deinde etiam Apostolorum), scheinen Anlaß gegeben zu haben, daß einzelne christliche Partheien ihr Evangelium von Christo oder von den Aposteln verfaßt glaubten.
    **) F. A. S t r o t h s  Fragmente des Evangel. nach den Hebräern (in Eichhorns Repert. für bibl. und morgenl. Liter. Th. 1. S. 1. 1777.).
        G. Chr. S t o r r  über den Zweck der evangel. Geschichte und der Briefe Johannis. Tübingen, 1786. S. 363-375.
        C. F. W e b e r s  Beiträge zur Geschichte des neutestam. Canons. Tübingen, 1791. S. 105-114.


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bräer,  P a u l u s  und  G r a tz *) für eine Evangelienharmonie,  E i ch h o r n **) für ein unvollkommenes Evangelium des Stammes, der im Matthäus erst seine Vollkommenheit erreicht habe, S ch m i d t ***) hingegen für eine neue Bearbeitung des Matthäus.
    4)  D a s  d i a  t e s s a r w n  d e s  T a t i a n,  eines Schülers von Justinus Martyr, nach den Kirchenvätern eine Harmonie unserer 4 Evangelien ****), der aber die Genealogien und alle die Erzählungen, welche Jesum als Nachkommen Davids darstellten, fehlten +), und welche von Einigen euagg. kata Ebraiouj genannt wurde ++). Ein bedeutendes Moment für die Meinung, daß es eine Harmonie der 4 canonischen Evangelien gewesen sey, wie unter den Neueren  H u g  und  S ch ü tz +++) behaupten, wäre das Zeugniß des Dionysius Bar=Salibi ++++), nach welchem Tatians Evangelium mit Joh. 1, 1. en arxh hn o logoj etc. anfing, wenn es über allen Zweifel erhoben wäre. Auch das Zeugniß des Eusebius, nach welchem Severus, welcher zu der von Tatian gestifteten Secte

    *) H. E. G.  P a u l u s  Ob das Evangel. Justins das Evangel. nach den Hebräern sey? (in den exeget. krit. Abhandlungen. Tübingen, 1784).
        Dr.  G r a tz  kritische Untersuchungen über Justins apostolische Denkwürdigkeiten. Stuttgart, 1814.
    **)  E i ch h o r n ' s  Einleitung ins N. T. Th. 1. S. 78-106.
    ***) J. E. C.  S ch m i d t ' s  Einleitung ins N. T. Th. 1. S. 117-124.
    ****) Euseb. h. e. 4, 29.
    +) Theodoret. haer. fab. comp. 1, 20.
    ++) Epiph. haer. 46, 1.
    +++)  H u g  Einl. ins N. T. Th. 1. S. 45.
        S ch ü tz  a. a. O.
    ++++) Assemanni Bibl. orient. T. I. P. III. p. 568.


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der Encratiten gehörte, die Evangelien annahm *), spricht für jene Meinung. Dessen ungeachtet halten Andere dieß dia tessarwn mit dem Evangelium des Justin für identisch, wie  S ch m i d t  und  G r a tz **), obgleich alsdann der Mangel der Jugendgeschichte, welche Justins Evangelium hatte, schwer zu erklären ist.  E i ch h o r n ***) hält es für eine Harmonie von 4 ältern Evangelienbüchern, zu denen namentlich das Evangelium der Hebräer gehörte.
    5)  D a s  E v a n g e l i u m  k a t '  A i g u p t i o u j  nur aus wenigen Fragmenten, die Clemens Alexandrinus erhalten hat, bekannt.  Sein Hauptcharacter war Mysticismus, und namentlich legte es Jesu viele geheimnißvolle, mystische Erklärungen in den Mund +), daher es auch von den Encratiten, dem Julius Cassianus und den Sabellianern gebraucht wurde. Schmidt ++) folgert aus dem Umstande, daß eine evangel. Stelle im 2. Briefe des Clemens Romanus +++) vom Clemens Alexandrinus aus diesem Evangelio citirt wird, daß der Verfasser jenes Briefes das ägypt. Evangelium gebraucht habe; und da sich für andere evangelische Stellen desselben Briefes Parallelstellen

    *) Euseb. IV. c. 29.
    **) In den oben angeführten Schriften.
    ***)  E i ch h.  Einl. ins N. T. Th. 1. S. 110-113.
    +) Epiph. haer. 42. §. 2. en autw (tw Aiguptiw euaggeliw) gar polla poiauta wj en parabustw musthriwdwj ek projwpou [sic] tou swthroj anaferetai,  wj autou dhlountoj toij maqhtaij, ton auton einai patera ton auton einai uion, ton auton einai agion pneuma.
    ++)  S ch m i d t ' s  Einleit. ins N. T. Th. 1. S. 103-185.
    +++) Clem. Rom. ep. II. c. 12. cf. Clem. Alex. Strom. III. c. 9.


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im Matthäus und Lucas finden, so schließt er daraus eine Verwandtschaft des ägyptischen Evangelii mit diesen beiden Evangelien. Diese wird noch wahrscheinlicher, wenn man erwägt, daß das Evangelium der Aegyptier bei seinem hohen Alter und seinem Ansehen unter den gnostischen Partheien wohl nicht ohne Einfluß auf die Evangelien des Cerinths, Carpocrates und Basilides geblieben seyn dürfte, daß aber diese beständig als dem Evangelio des Matthäus nahe verwandt geschildert werden.
    6)  D a s  E v a n g e l i u m  d e s  C e r i n t h s  u n d  d e s  C a r p o c r a t e s  glich einem unvollständigen Matthäus *), enthielt aber die Genealogie, welche die Abstammung Jesu vom Joseph und von der Maria beweisen sollte. Wenn Irenäus das Evangelium des Cerinth mit dem des Marcus identificirt **), so kann dieß nicht auffallen, wenn man erwägt, wie geneigt die Kirchenväter überhaupt zur Identificirung eines apocryphischen Evangeliums mit einem canonischen waren, und wie auch wirklich Marcus nicht minder als das cerinthische Evangelium einem abgekürzten Matthäus gleicht.
    7)  D a s  E v a n g e l i u m  d e s  B a s i l i d e s.  Basilides hat nach dem Zeugnisse des  A g r i p p a  C a s t o r  sei=

    *) Epiph. haer. 30. c. 14.  O men gar Khrinqoj kai Karpokraj tw autw xrwmenoi dhqen par' autoij Euaggeliw etc.
        Id. haer. 28. c. 5. xrwntai tw kata Matqaion euaggeliw apo merouj kai ouxi olw etc.
    **) Iren. III, 11. qui Iesum separant a Christo et impossibilem perseverasse Christum, passum vero Iesum dicunt, id, quod secundum Marcum est, praeferentes evangelium etc.


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nes Bestreiters *) einen Commentar von 24 Büchern zum Evangelio geschrieben; Andere **) erwähnen eines Evangeliums des  B a s i l i d e s;  dieses sind alle Nachrichten, die man von diesen Schriften hat. Das Evangelium war in den Commentar verwebt, wie sich dieses bei allen Commentaren der Alten findet; ob es auch getrennt von demselben vorhanden war, kann gleichgültig seyn. Fragen wir nach der Beschaffenheit dieses Evangelii, so bieten die wenigen Fragmente desselben ***) eine so auffallende Aehnlichkeit mit Matthäus dar, daß wir nicht anstehen können, dasselbe für eine dem Matthäus verwandte Schrift zu erklären. Zum Beweise diene folgende Zusammenstellung:
    Um zu erweisen, daß es erlaubt sey, den Märtyrertod zu fliehen, berief sich  B a s i l i d e s +) auf die Worte Jesu: mh balhte touj margaritaj emprosqen twn xoirwn, mhde dote to agion toij kusi; zwei Sätze, die bei Matth. 7, 6. nur umgestellt sind.
    Um die Enthaltung von der Ehe zu vertheidigen, berief sich  B a s i l i d e s  auf Worte, die mit Matth. 19, 11. 12. harmoniren ++):

    *) Euseb IV, 7. (Agrippa Kastwr) fhsin, auton (Basileidhn) eij to euaggelion tessara proj toij eikosi suntacai biblia. Hieron. de script. eccles. c. 31.
    **) Orig. homil. 1. in Luc.  Hieron. prooem. in comm. super Matth.  Ambros. comm. in Luc. prooem.
    ***) Zu diesen gehören außer denen, die ausdrücklich als solche angeführt werden, doch auch diejenigen evangel. Stellen, die Basilides als Stützen seiner Dogmen aufstellte. Er wird diese am wenigsten in seinem Evangelio vergessen haben.
    +) Bei Epiph. haer. 24. §. 5.
    ++) Clem. Alex. Strom. III, 1.


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ou pantej xwrousi ton logon touton: eisi gar eunouxoi oi men ek genethj: oi de ec anagkhj. und weiter unten: oi de eneka thj aiwniou Basileiaj eunouxisantej eautouj. - -
    Eine Vergleichung mit Matthäus lehrt, daß der Ideengang zwar völlig gleich ist, die Worte aber nur zum Theil übereinstimmen, zum größern Theile abweichen.
    Außerdem findet sich vielleicht auch eine Spur von einer mit Lucas übereinstimmenden Stelle *): oi de apo Baseleidou - - - tou baptismatoj autou thn hmeran - fasi einai to pentekaidekaton etoj Tiberiou Kaisaroj k. t. l. (cf. Luc. 3, 1.) -
    8)  D a s  E v a n g e l i u m  B a r t h o l o m ä i,  welches Pantänus aus Indien (d. i. dem glücklichen Arabien, Babylonien etc.) mitbrachte, war nach Eusebius das Evangelium Matthäi **). Wenn es wirklich von Bartholomäus herrührte, so kann es dieses schwerlich gewesen seyn. Dieß fühlte schon Hieronymus und drückte sich darüber so aus, daß Bartholomäus die Erscheinung Jesu nach dem Evangelium Matthäi gepredigt habe ***), das heißt nicht etwa nach der Anleitung desselben, sondern übereinstimmend mit ihm. Wir müssen also entweder annehmen, daß dieses Evang. der hebräische Matthäus ge=

    *) Clem. Alex. Strom. I, 21. pag. 407. ed. Potter.
    **) Euseb. h. e. 5, 10.
    ***) Hieron. de vir. ill. c. 36.: - - ubi (Pantaenus) reperit, Bartholomaeum de XII. apostolis adventum domini nostri Iesu Christi juxta Matthaei evangelium praedicasse, quod hebraicis literis scriptum revertens Alexandriam secum detulit.


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wesen, aber erst später in jene Gegenden gekommen, oder daß es vom Bartholomäus oder seinen Zuhörern verfaßt und ein dem Matthäus ähnliches Evangelium gewesen sey.
    9) So wie sich diese Evangelien dem Evangelio des Matthäus am nächsten anschlossen, so näherte sich das Evangelium des Marcion, welches aber schon von dessen Lehrer  C e r d o n *) gebraucht war, und vom Tertullian auch  e v a n g e l i u m  p o n t i c u m **) genannt wird, so sehr dem Lucas, daß es allgemein für ein vom Marcion verfälschtes Evangelium Lucä galt ***). Die Marcioniten nannten es, da sie kein anderes Evangelium gebrauchten, schlechthin evangelium, oder evangelium Christi +), behaupteten aber späterhin, Christus sey der Verfasser desselben, und Paulus habe es nach dessen Tode vollendet ++). Gleichwie Basilides sein Evangelium

    *) Tert. lib. de praescriptione adv. haer. c. 51.  (Cerdon) solum evangelium Lucae nec tamen totum recipit.
    **) Tert. adv. Marc. IV. c. 2.
    ***) Iren. 1, 29. (Marcion) id quod est secundum Lucam evangelium circumcidens - - - - semetipsum veraciorem esse, quam sunt hi, qui evangelium tradiderunt Apostoli, suasit discipulis suis etc. cf. 3, 12. 14. Tertull. c. Marc. 4. c. 2 et 5. Orig. c. Cels. 2. pag. 77. Epiph. haer. 42.
    +) Tert. adv. Marc. IV, 2.  Marcion evangelio suo nullum adscribit autorem, quasi non licuerit illi titulum quoque adfingere, cui nefas non fuit ipsum corpus evertere.
    ++) Orig. dial. c. Marc. I. pag. 534.  s. oben S. 16. Wäre zu Tertullians Zeit dieß schon die Meinung der Marcioniten gewesen, so würde der strenge Kirchenvater sie schon dafür gezüchtigt haben. Dagegen bezeugt er, daß sie ihrem Evangelium keinen Verfasser a n d i ch t e t e n,  denn in der allgemeinen Benennung evangelium Christi fand er so wenig als die damaligen Marcioniten eine Benennung des Verfassers. Erst späterhin geriethen


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durch einen exegetischen Kommentar zu sichern suchte, so schrieb Marcion für das seinige Antitheses oder Gegeneinanderstellungen der jüdischen von dem gerechten Gotte herrührenden Vorstellungen und der christlichen, welche nach seiner Ansicht den guten Gott zum Urheber hatten *). Das Evangelium hatte keine Jugendgeschichte Jesu, sondern fing mit der Zeitbestimmung Luc. 3, 1. an, womit es aber sogleich die Erzählung Luc. 4, 31. verband, so daß es mit folgenden Worten begann: Anno quinto decimo principatus Tiberiani descendit in civitatem Galilaeae Caphernaum. **). Eben so fehlte das Ende des Evangel. Lucä ***). Vielleicht endigte sich Marcions Evangel. mit Lucä 24, 49., denn Epiphanius schließt sein Verzeichniß mit Luc. 24, 38. 39., welches aber mit dem folgenden bis V. 49. genau zusammenhängt. Nach den Fragmenten, welche Tert. adv. Marc. IV. und Epiph. haer. 42, 11. beibringen, zu urtheilen, stimmte es meistens wörtlich mit Lucas überein, hatte aber mehrere abweichende Lesarten und oft einen kürzern

die Letzteren auf diesen Mißverstand, vielleicht auch wohl durch die Neckereien der Orthodoxen, daß sie ein anonymes Evangeliumbuch besäßen, auf dieses expediens aufmerksam gemacht.
    *) Tert. adv. Marc. IV, 1.  Ut fidem instrueret, dotem quandam commentatus est illi (evangelio suo), opus ex contrarietatum oppositionibus Antitheses cognominatum, et ad separationem legis et evangelii coactum, qua duos Deos dividens proinde diversos, alterum alterius Instrumenti - - - ut exinde evangelio quoque secundum Antitheses credendo, patrocinaretur.
    **) Tert. adv. Marc. 4. c. 7.
    ***) Epiph. haer. 42, 11.  mhte arxhn exon, mhte mesa, mhte teloj.


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mangelhaften Text. Außer einzelnen Versen fehlten folgende Abschnitte ganz darin *): Luc. 13, 1-9.  29-35.  15, 11-32.  16, 19-31.  18, 31-34.  19, 29-46.  20, 9-18.  32[sic], 32-45.
    Unter den Neuern haben sich  B o l t e n,  H u g,  S t o r r  und  S ch ü tz **) vornämlich auf die Autorität der ältern Zeugnisse gestützt, für die Meinung erklärt, daß dieses Evangelium ein vom Marcion interpolirter Lucas gewesen sey. Aehnlich ist die Meinung des  R e c e n s e n t e n  der Schützischen Dissertationen in der A. L. Z. ***), daß das sogenannte Evangelium des Marcion nur in dessen Antithesen vorhanden gewesen, und dadurch entstanden sey, daß Marcion den größten Theil des Evangelium Lucä, eines ihm am wenigsten verdächtigen Pauliners, partienweise, d. h. die Stellen, die auf seine Lehrmeinungen Beziehung hatten, in sein Antithesenwerk einrückte, um darüber seinen Zweck gemäß zu commentiren, sie entweder nach seinen Ansichten zu deuten, oder zu zeigen, daß sie interpolirt seyen. Dieser Ansicht steht aber die oben mitgetheilte Notiz entgegen, daß schon Cerdon dieses Evangelium gebraucht habe. Der Meinung, daß Marcion nach dogmatischen Rücksichten den Lucas verstümmelt habe, ist die Beschaffenheit der Fragmente ganz zuwider; denn unter ihnen finden sich mehrere, die

    *)  E i ch h.  Einleit. ins N. T. Th. 1. S. 40-78. 605-629.
    **)  J.  A.  B o l t e n  Vorrede zu der Uebersetzung des Lucas (Altona, 1796). -  H u g  Einleit. ins N. T. Th. 1. S. 60. -  S t o r r  Zweck der evangel. Geschichte etc. S. 254. -  S c h ü t z  l. c. diss. I. pag. 26-40.
    ***) A. L. Z. Mai 1813. St. 105. S. 5-8.


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seiner Lehre ganz widersprechen. So gut wie er diese stehen ließ, und nach seinem Systeme erklärte, so gut konnte er auch den ganzen Lucas, wenn er ihn kannte, unverändert annehmen. Da zu diesen Gründen noch die Bemerkungen kommen, daß die Marcioniten selbst ihr Evangelium so wenig vom Lucas ableiteten, daß sie die Orthodoxen deshalb tadelten, weil sie die Evangelien des Marcus und Lucas gebrauchten, die doch keine Apostel gewesen wären *); daß Tertullian seine Behauptung nur als Vermuthung ausspricht **); daß Marcion, wenn er unsere canonischen Evangelien gekannt hätte, gewiß das des Johannes zu seinem Zwecke am passendsten gefunden haben würde; und daß endlich die Alten überhaupt geneigt waren, ähnliche Evangelien mit einander zu identificiren, oder Eines von dem Andern abzuleiten; so haben die meisten Neueren, und unter ihnen vorzüglich  L ö f f l e r,  C o r r o d i,  E i ch h o r n  und  S ch m i d t ***) jenes Evangelium für eine dem Lucas ähnliche, aber von ihm unabhängige Schrift erklärt.

    *) Dial. contr. Marc. II.  Megeth. Marcum et Lucam non habuit in discipulis Christus et propterea vel hinc reprehendi potestis, falsa quippe effingentes. Cur enim ea non perscripserunt hi, quorum nomina in evangelio descripta sunt, sed ii, qui non extant inter discipulos.
    **) Tert. adv. Marc. 4. c. 2. ex iis commentatoribus, quos habemus, Lucam videtur Marcion elegisse, quem caederet.
    ***)  I.  F.  E.  L o e f f l e r  disp. qua Marcionem Pauli epistolas et Lucae evangelium adulterasse dubitatur. Frcf. 1788. (in Velth. Kuin. et Ruperti comm. theol. Vol. I. p. 180-218).
        (C o r r o d i)  Versuch einer Beleuchtung der Geschichte des Bibelcanons. Halle, 1793. Th. 2.
        E i ch h o r n  a. a. O.
        S ch m i d t  Einl. ins N. T. Th. 1. S. 126-133.


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    Das Hauptresultat dieser Zusammenstellung ist also, selbst wenn sich bei Einzelnen dieser Evangelien, wie bei denen des Justins und Tatians, ihre Identität mit andern entweder canonischen oder apocryphischen sehr wahrscheinlich machen ließe, daß im zweiten Jahrhunderte mehrere andere Evangelien existirten, die mit unsern 3 ersten canonischen nahe verwandt waren, ohne daß eine historische Spur uns nöthigte, sie von diesen abzuleiten, daß hingegen bei Einzelnen entscheidende Gründe für ihre Unabhängigkeit sprechen.

[Top]

§. 3.

E v a n g e l i s ch e  S t e l l e n  i n  d e n  R e d e n  u n d  B r i e f e n  d e r  A p o st e l.

    Dieselbe Erscheinung der Aehnlichkeit mit unsern drei ersten canonischen Evangelien gewähren einzelne evangelische Stellen, die in den Reden und Briefen der Apostel zerstreut sind. Es findet sich bei der Vergleichung derselben ebenfalls ein häufiges Zusammentreffen in den Worten, aber auch verbunden mit eben solchen Variationen des Ausdrucks, wie wir sie in den Evangelien selbst gefunden haben.
    Hierher gehören zuerst  a u s d r ü ck l i ch e  C i t a t i o n e n  des Evangelii, dergleichen von  P e t r u s  nur kürzere erhalten sind:
 
Act. 11, 16.
Iwannhj men ebaptisen udati, umeij de baptisqhsesqe en pneumati agiw.
cf. Marc. 1, 8.
Egw men ebaptisa umaj en udati, autoj de baptisei umaj en pneumati agiw.


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Act. 13, 25.
Tina me uponoeite einai; ouk eimi egw, all' idou
erxetai met' eme ou( ouk eimi acioj
to upodhma twn podwn lusai.
Marc. 1, 7.
(cf. Matth. 11, 8. ti echlqete idein;)
erxetai o isxuroteroj mou opisw mou ou( ouk eimi ikanoj
kuyaj lusai ton imanta twn upodhmatwn autou.
2 Petr. 1, 17.
outoj estin o uioj mou o agaphtoj
eij on egw eudokhsa.
Matth. 17, 5.
outoj estin o uioj mou o agaphtoj
en w| eudokhsa autou akouete.

    Von Paulus ist zuerst das agrafon erhalten: (Act. 20, 35.) Makarion esti mallon didonai h lambanein. - Besonders auffallend ist aber die Uebereinstimmung der Erzählung von dem Abendmahle Jesu 1 Cor. 11, 23-26. mit der des Lucas 22, 19. 20.
 
1 Cor. 11.
23. elaben arton
24. kai euxaristhsaj
eklase kai eipe:
touto mou esti to swma
to uper umwn klwmenon
touto poieite
eij thn emhn anamnhsin:
25. Wsautwj kai to pothrion meta to deipnhsai legwn:
Luc. 22.
19. kai labwn arton
euxaristhsaj
eklase kai edwken autoij legwn:
touto esti to swma mou
to uper umwn didomenon
touto poieite
eij thn emhn anamnhsin
20. Wsautwj kai to pothrion meta to deipnhsai legwn:


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touto to pothrion h kainh diaqhkh esti en tw emw aimati
(touto poieite osakij an pinhte eij thn emhn anamnhsin).
touto to pothrion h kainh diaqhkh en tw aimati mou
(to uper umwn ekxunomenon).

    Außerdem kommen in den Briefen aller Apostel Stellen vor, die zwar nicht ausdrücklich Citate des Evangeliums, aber dennoch mit Stellen unserer 3 ersten Evangelisten so ähnlich sind, daß man sie für evangelische Reminiscenzen halten muß. Außer denen, die man noch jetzt in unsern Evangelien nachweisen kann, und von denen die folgenden Proben seyn mögen, sind unstreitig wohl noch andere darin verborgen, die man zu erkennen keine sichern Mittel mehr hat, weil sie in den Evangelien fehlen *).
    1 Tim. 5, 18. und Luc. 10, 7. wörtlich übereinstimmend: acioj o ergathj tou misqou autou (Matth. 10, 10. hat thj trofhj autou).
 
1 Thess. 5, 3.
aifnidioj autoij efistatai oleqroj
Luc. 21, 34.
aifnidioj ef' umaj episth h hmera ekeinh.
1 Cor. 10, 27.
pan to paratiqemenon umin esqiete.
Luc. 10, 8.
esqiete ta paratiqemena umin.

    *) Versuche, solche Stellen aufzufinden, s. in: H. H.  C l u d i u s  Uransichten des Christenthums. Altona, 1808.  Von dem Evang. Pauli, S. 142-145.  Jacobi, S. 252.  Von Beziehungen der Apocalypse auf das Evang. S. 318.


29
Iac. 5, 12.

mh omnuete
mhte ton ouranon

mhte thn ghn

(mhte allon tina orkon.)
htw de umwn
    to nai, nai
    kai to ou, ou
(ina mh upo krisin peshte).

Matth. 5, 34.
(egw de legw umin)
mh omosai olwj
mhte en tw ouranw
- - - - -
mhte en th gh
- - - - -
(mhte eij Ierosoluma mhte en th kefalh etc.)
estw de o logoj umwn
    nai, nai
    ou, ou
to de perisson toutwn ek tou ponhrou estin.

    Hierher gehört auch  B a r n a b a s,  der schon in den frühesten Zeiten Mitglied der Gemeinde von Jerusalem war *), und später mit dem Paulus als Heidenapostel von den Jüngern Jesu anerkannt wurde **). In dem noch von ihm vorhandenen Briefe sind nur kürzere Anspielungen auf Stellen unserer Evangelien enthalten, welche aber auch beweisen, daß das Evangelium des Barnabas, mag es ein schriftliches oder ein mündliches gewesen seyn, mit unsern canonischen Evangelien auch im Ausdrucke sehr verwandt war.
    In dem nur noch lateinisch vorhandenen Anfange des Briefs wird der Ausspruch Matth. 22, 14. citirt:

    *) Act. 4, 36.
    **) Gal. 2, 9. cf. Act. 14, 14.


30

attendamus ergo, ne forte sicut scriptum est, multi vocati, pauci electi inveniamur.
 
Barn. c. 5.
(ina deich) oti ouk hlqe
kalesai dikaiouj
alla amartwlouj
eij metanoian.
Luc. 5, 32.
ouk elhluqa
kalesai dikaiouj
all' amartwlouj
eij metanoian.

    Die Zusammenstellung aphoristischer, moralischer Vorschriften am Ende des Briefes ist ganz in der Manier, die wir in der Bergpredigt, in den Worten Jesu an den reichen Jüngling (Matth. 19, 17-19.) und in andern Stellen der Evangelien finden; und obgleich Barnabas seinen eignen Gang nimmt, so drückt er doch einzelne Vorschriften ganz so aus, wie wir sie in den Evangelien finden.  Z. B.
 
Barn. c. 19.
agaphseij ton plhsion sou uper thn yuxhn sou.
Matth. 19, 19.
agaphseij ton plhsion sou wj seauton.
ibid. weiter unten:
panti aitounti se didou.
Matth. 5, 42.
panti aitounti se didou.

    Außerdem kommt im 11. Capitel eine mit Matth. 22, 41-46., und im 6. Capitel eine mit Matth. 16, 24. verwandte Stelle vor.

[Top]

§. 4.

G e d r ä n g t e  U e b e r s i ch t  d e r  b i s h e r i g e n  V e r s u ch e,  d i e  E n t st e h u n g  d e r  E v a n g e l i e n  z u  e r k l ä r e n.

    Nach diesen hier kurz zusammengefaßten Notizen finden sich im christlichen Alterthume theils viele Evange=


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lien, die sich entweder aus dem apostolischen Zeitalter herschreiben, oder nahe daran gränzen, theils viele einzelne evangelische Stellen in den Schriften der Apostel, so in Hinsicht auf Gedanken, Ideengang und Ausdruck verwandt, daß sie nothwendig aus Einer Quelle, die schon in dem apostol. Zeitalter zu suchen ist, geflossen seyn müssen; neben dieser Aehnlichkeit aber auch wieder in jenen Rücksichten so von einander abweichend, daß dadurch die Ausmittlung jener gemeinschaftlichen Quelle und der Art, wie sie jeder benutzte, sehr erschwert wird.
    So lange in der Kirche die strenge Inspirationstheorie herrschte, nach welcher die heiligen Schriftsteller nur Instrumente des heiligen Geistes waren, so lange konnte jene Uebereinstimmung der Evangelien nicht auffallen. Man fand es natürlich, daß der heilige Geist für dieselbe Sache nur denselben (besten) Ausdruck gebraucht habe, und fand in dieser Uebereinstimmung daher einen Beweis für den göttlichen Ursprung der Evangelien *). Desto mehr Mühe wandte man bei dieser Ansicht auf die disharmonirenden Stellen, und alle Kir=

    *) Epiph. adv. haer. 51 c. 6. ina - - ta men sumfwnwj kai iswj khrucwsin, ina deixqwsin oti  e c  a u t h j  t h j  p h g h j  wrmhntai. cf. c. 4. oti ekastw Euaggelisth memelethtai, sumfwnwj men toij eteroij lalhsai ta up' ekeinwn eirhmena - -  o u  g a r  h n  a u t w n  t o  q e l h m a  a l l a  e k  p n e u m a t o j  agiou h didaskalia k. t. l.
    Chrysostom. Homil. I. in Matth. Nam cum videris quatuor, qui non in unum locum convenerunt simul, aliis et aliis in locis vitam egisse, et de iiisdem rebus quasi ex uno ore scripsisse, non admiraberis evangelii veritatem, sed fateberis, quod ex spiritu Sancto locuti fuerint.


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chenväter liefern daher Versuche, solche mit einander zu vereinigen.
    Nachdem die Socinianer und Arminianer zuerst diese strenge Theorie verlassen, und die Inspiration auf eine, zwar Irrthümer verhindernde, aber die individuelle Darstellungsweise des Schriftstellers nicht beschränkende Wirksamkeit des heiligen Geistes zurückgeführt hatten; mußten ihre Gelehrten, wie darin die Arminianer  G r o t i u s,  J o h.  C l e r i c u s  und  W e t t st e i n  vorangingen, auch die Harmonie der Evangelien auf eine natürliche Weise zu erklären suchen, worin ihnen in der Folge, so wie allmählig in den übrigen protestantischen Partheien die Inspirationstheorie gemäßigter wurde, auch andere Gelehrte folgten. Von den zwei Wegen, die es zur Erklärung dieses Verhältnisses der Evangelien überhaupt nur geben kann:
    D e m  E i n e n,  daß sie sich unter einander,
    D e m  A n d e r n, daß sie gleiche Quellen genutzt haben,
fand anfangs der Erste die meisten Anhänger, erst in neuern Zeiten erhielt die zweite Annahme, obgleich unter den verschiedensten Modificationen einen allgemeinern Beifall.
    I. Diejenigen, welche eine Benutzung der Evangelisten unter sich annehmen, weichen wieder in Ansehung der Anordnung derselben sehr von einander ab. Sie stellen alle Einen der drei canonischen Evangelisten an die Spitze, und lassen diesen von den beiden Andern unabhängig genutzt werden, oder lassen jenen Ersten von den Zweiten und Beide von dem Dritten gebrauchen. Die


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wichtigsten dieser Annahmen, nach den Evangelisten, die an die Spitze gestellt werden, geordnet, sind folgende:
    1.  M a t t h ä u s,  G r o t i u s,  M i l l,  W e t st e i n,  T o w n s o n  und  H u g *) lassen den Marcus zuerst aus ihm, den Lucas aber aus Matthäus und Marcus schöpfen.
    Nach  O w e n,  G r i e s b a ch  und  A m m o n **) schöpfte dagegen zuerst Lucas aus Matthäus, Marcus aus beiden.
    2.  M a r c u s,  S t o r r ***) läßt aus ihm den Matthäus und Lucas schöpfen.
    3.  L u c a s.  Nach  B ü s ch i n g +) schöpfte Matthäus aus ihm, und Marcus aus Matthäus und Lucas. Nach  V o g e l ++) gebrauchte ihn Marcus zuerst, Matthäus benutzte nachher den Marcus und Lucas.

    *) G r o t i u s  ad Matth. 1, 1. ad Luc. 1, 1.
        M i l l i i  proleg. in N. T. §. 109. 116.
        W e t s t e i n  in praef. ad Marc. et Lucam.
        T h.  T o w n s o n  Abhandlungen über die 4 Evangelien, übersetzt v. J. T. Semler. Leipzig, 1783.
        J.  L.  H u g  Einleit. in das N. T. Th. 2 S. 4. ff.
    **) Owen's Observations of the four Gospels. Lond. 1764. p. 32.
        G r i e s b a c h  comm. qua Marci evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse monstratur. Ienae, 1789. 1790. (wieder abgedruckt in comm. theol. ed. Velthusen, Kuinoel et Ruperti. Vol. 1.).
        A m m o n  diss. de Luca emendatore Matthaei. Erl. 1805.
    ***) S t o r r  über den Zweck der evangel. Geschichte etc. S. 274. und comm. de fontibus evangeliorum Matthaei et Lucae. Tüb. 1794. (in Velthus. etc. Comment. Vol. III. p. 140.).
    +) A. F. B ü s ch i n g ' s  Harmonie der Evangelien. Hamburg, 1766. S. 99. 108. 118. ff.
    ++) V o g e l  über die Entstehung der drei ersten Evangelien (in Gablers Journ. für auserl. theol. Literatur. Bd. 1. St. 1. 1804.).


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    Unter allen diesen Hypothesen stützt sich keine auf ein historisches Datum, sondern alle auf Argumentationen, die aus dem Verhältnisse der Evangelien zu einander entlehnt sind. Zwar pflegen die Vertheidiger von Nr. 1 sich auf den Augustin zu berufen; aber abgesehen davon, daß Augustins Meinung hier von gar keinem Gewichte seyn kann, so scheint die angeführte Stelle in der That das gar nicht zu behaupten, was sie nach jener Meinung behaupten soll, daß nämlich Marcus wirklich der Epitomator des Matthäus gewesen sey. Wenige kirchliche Schriftsteller drücken sich über die Inspiration der heiligen Bücher so stark aus als gerade Augustin. In demselben Buche, aus welchem jene Stelle genommen ist, hält er es für einerlei, ob Christus selbst oder die Apostel etwas geschrieben haben: "denn was jener von seinen Thaten oder Aussprüchen uns bekannt machen wollte, das ließ er durch diese gleichwie durch seine Hände schreiben **)." Kurz vor jener Stelle sagt er: "So wie es jedem eingegeben wurde, so fügte er den nicht überflüssigen Beitrag seiner Arbeit hinzu ***)." Bei dieser strengen Inspirationstheorie konnte Augustin an ein eigentliches Epitomiren des Marcus nicht denken, und wenn man die Stelle genau und insbesondere das

    *) A u g u s t i n  de consens. evang. 1. c. 4.: Marcus Matthaeum subsecutus tanquam pedissequus et breviator ejus videtur.
    **) l. c. c. 35. quidquid enim ille de suis factis vel dictis nos legere voluit, hoc scribendum illis tanquam manibus suis imperavit.
    ***) l. c. c. 2. sicuti unicuique inspiratum est, non superfluam cooperationem sui laboris adjunxit.


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"tanquam" in ihr genau erwägt, so giebt sie auch zu dieser Annahme keine Veranlassung. Sie sagt nur: Marcus scheint gleichsam des Matthäus Fußstapfen zu folgen und ihn abzukürzen, d. h. das Verhältniß beider Evangelien zu einander ist in Hinsicht auf den Reichthum des Inhalts dem ähnlich, das zwischen einem Epitomator und dem Originale statt findet. Wäre Augustin weiter nach dem Grunde dieser Erscheinung gefragt, so würde er diesen gewiß nicht in einem wirklichen Epitomiren, sondern in der Oeconomie des heiligen Geistes gefunden haben.
    Außer der Ermangelung alles historischen Grundes kann allen diesen Hypothesen noch folgendes entgegengesetzt werden:
    1. Man sieht nicht, was den späteren Evangelisten überhaupt bewog, wenn er die Arbeit eines tüchtigen Vorgängers kannte, statt diese (fand er es nöthig, allenfalls mit Supplementen versehen) zu verbreiten, sie nach einer, wenigstens in Rücksicht des Inhalts unbedeutenden Ueberarbeitung unter seinem Namen heraus zu geben.
    2. Wie man auch die Evangelisten ordnen möge, immer bleibt doch in den Früheren vieles, was die Späteren übergangen haben. Für unrichtig können sie es doch nicht gehalten haben; schwerlich möchte sich aber gerade von diesen Stellen zeigen lassen, daß diese nicht für alle Kreise von Lesern paßten. Die Auslassung dieser Stellen bleibt also unbegreiflich.
    3. Die Bearbeitung selbst, die man annehmen muß, wie sehr weicht sie von dem Geiste einer oligographischen Zeit ab! Hier giebt der spätere Evangelist ganzen Erzäh=


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lungen und einzelnen Sentenzen eine ganz andere Stelle, er muß also seines Vorgängers Schrift bald hierhin bald dorthin umgeblättert haben, um - jene Stellen abschreiben zu können! Hier schreibt er anfangs wörtlich ab, dann wechselt er spielend die Gedanken oder Wortfolge, nun läßt er Gedanken aus, endlich vertauscht er ohne alle Veränderung des Gedankens Ausdrücke mit Synonymen! Und bei aller dieser Ziererei tragen dennoch diese Schriften das Gepräge der Einfachheit und Anspruchslosigkeit so deutlich an sich, daß selbst ihre Feinde dieß an ihnen erkennen.
    4. Vorzüglich aber widerstrebt diesen Hypothesen die Bemerkung, daß man, mag auch die Ordnung der Evangelien festgesetzt werden, wie sie will, immer gezwungen bleibt, zuzugeben, daß der spätere Evangelist in vielen Fällen nicht nur die deutlichere Darstellung seines Vorgängers mit einer mangelhaftern, ungenauern vertausche, sondern daß er auch nicht selten seiner Quelle, wo nicht wirklich, doch scheinbar widerspreche *), und oft auf eine solche Art, daß man annehmen muß, er habe seiner Quelle wirklich widersprechen  w o l l e n,  weil Ungenauigkeiten bei der Benutzung nicht alles erklärt.
    II. Der zweite Hauptweg zur genetischen Erklärung des Verhältnisses der Evangelien geht von der Annahme gemeinschaftlicher außer jenem Kreise liegenden Quellen

    *) E i ch h o r n ' s  Einleit. Th. 1. S. 155-162., an einzelnen Beispielen erwiesen S. 196. 203. 217. 226. u. s. w.
    B e r t h o l d t ' s  Einleit. in die Schriften des A. und N. T. 3r Th. S. 1127-1173.


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aus. Da diese entweder schriftliche oder mündliche Quellen seyn können, so theilt er sich von selbst in zwei Aeste.
    Am häufigsten ist die Hypothese von gemeinschaftlichen  s ch r i f t l i ch e n  Quellen vorgetragen, welche aber wieder auf die verschiedenste Art bestimmt wurden.
    1.  C l e r i c u s *), der überhaupt zuerst diese Erklärungsart andeutete, (denn Epiphanius **) wird von Bertholdt hier mit Unrecht genannt, da derselbe den heiligen Geist als gemeinschaftliche Quelle der Evangelien denkt),  M i ch a e l i s,  B r i e st l e y,  K o p p e  und  H a l f e l d ***) fanden dieselben zum Theil durch Luc. 1, 1. geleitet, theils in  m e h r e r e n  älteren Evangelien, theils in Schriften über einzelne Theile der Merkwürdigkeiten des Lebens Jesu, welche von den Evangelisten gemein=

    *) C l e r i c i  hist. eccl. Amstelod. 1716. pag. 429.: Quod volunt ex collatione evangelii Lucae cum Matthaei et Marci evangeliis liquere, Lucam ab illis loca integra verbaque et loquendi genera mutuatum esse, id vero minime perspicuum est; quidni enim credamus, tria haec evangelia partim petita esse ex similibus aut iisdem fontibus, hoc est, e commentariis eorum, qui varios Christi sermones audiverant: aut actorum ejus testus fuerant, eaque ne oblivioni traderentur, illico scriptis mandarant?
    **)  B e r t h o l d t ' s  Einl. Th. 3. S. 1174. 1206. Die Stelle des Epiphanius (haer. I. c. 6.) ist oben  v o l l st ä n d i g  mitgetheilt.
    ***) J. D.  M i ch a e l i s  Einleitung ins N. T. 4e Ausgabe. Th. 2. §. 129.
        B r i e s t l e y  observations on the Harmony of the Evangelists. 1777. p. 73.
        I. B.  K o p p e  progr. Marcus non epitomator Matthaei. Gotting. 1782. (in syll. comm. theol. ed. a Pott et Ruperti. Vol. I. p. 55.).
        H. G.  H a l f e l d  de origine quatuor evangeliorum. Gottingae, 1794.


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schaftlich gebraucht seyen. - Allerdings läßt sich durch diese Hypothese vieles erklären, weil man einem jeden Evangelisten bei jedem Abschnitte, je nachdem es sein Verhältniß zu den Uebrigen erfordert, nach Belieben gemeinschaftliche oder abweichende, reichere oder ärmere Quellen zutheilen kann; indeß ist diese Hypothese durch eine solche genauere Anpassung an die verschiedenen Abschnitte der Evangelien noch nicht vertheidigt. Unaufgelöst bleibt aber durch dieselbe die Uebereinstimmung, namentlich des Marcus und Lucas in der Zusammenstellung der Erzählungen, da doch beide ihre Evangelien aus unzusammenhängenden kleineren Schriften zusammengesetzt haben sollen.
    Ein gemischtes Product aus dieser und den Hypothesen der ersten Art ist die Meinung, welche P a u l u s *) aufgestellt hat, nach welcher die Evangelien des Matthäus und Lucas aus einer Reihe Apomnemoneumaten oder früheren Aufzeichnungen über einen oder über ein Paar Tage des Lebens Jesu, welche wahrscheinlich von sogenannten Evangelisten herrührten, zusammengesetzt sind, das Evangelium Marci aber mit den Character einer ergänzenden Abkürzung aus jenen beiden geschöpft ist.
    2. Allgemeiner ist in den neuern Zeiten die Annahme  E i n e s  s y r o ch a l d ä i s ch e n  E v a n g e l i i  als gemeinschaftlicher Urschrift unserer drei ersten Evangelien

    *) H. E. G.  P a u l u s  Anzeige von Gray's neuem Versuche, die Entstehung der 3 ersten Evangelien zu erklären, in den Heidelb. Jahrb. 1812. Nr. 17. 18.


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geworden, welche von  S e m l e r *) zuerst angedeutet, von Andern verschieden angewandt und bearbeitet wurde.
    a)  L e s s i n g **) fand dieses Urevangelium zuerst in dem  E v a n g e l i u m  d e r  H e b r ä e r;  N i e m e y e r,  W e b e r,  T h i e ß  und  V e n t u r i n i ***) folgten ihm darin, nahmen aber mehrere frühere Nachträge und Ueberarbeitungen desselben an.
    b) Andere zogen dagegen, vorzüglich auf die berühmte Stelle des  P a p i a s *) gestützt, aus der indeß, da sie aus ihrem Zusammenhange gerissen ist, schwerlich etwas mit Gewißheit gefolgert werden kann, die Annahme vor, daß ein  s y r o ch a l d ä i s ch e r  M a t t h ä u s  die Quelle unserer Evangelien gewesen sey. Nach  C o r r o d i ++) wurde dieser syrochaldäische Matthäus schon früh

    *) J. S.  S e m l e r  in den Anmerkungen zu Townson's Abhandlungen über die 4 Evangelien. 1r Bd. S. 146. 147. 221. 290.
    **) G. E.  L e s s i n g s  theol. Nachlaß. 1784. S. 45-72.
    ***) A. H.  N i e m e y e r  conjecturae ad illustrandum plurimorum N. T. scriptorum silentium de primordiis vitae Iesu Christi. Halae, 1790.
    C. F.  W e b e r ' s  Beiträge zur Geschichte des Neutestamentlichen Canons. Tübingen, 1791. S. 21. ff.
    D e s s e n  neue Untersuchung über das Alter und das Ansehen des Evang. d. Hebr. Tübingen, 1806.
    J. O.  T h i e ß  neuer crit. Commentar über das N. T. Bd. 1. Einleit. (Halle, 1804.).
    V e n t u r i n i  Geschichte des Urchristenthums in seiner natürlichen Gestalt. Th. 2. S. 8.
    +)  P a p i a s  ap. Euseb. 3, 39.: Matqaioj men oun Ebraidi dialektw ta logia sunetacato, hrmhneuse d'auta wj hn dunatoj ekastoj.
    ++)  C o r r o d i  Versuch einer Beleuchtung der Geschichte des jüdischen und christlichen Bibelcanons. Bd. 2. S. 149-152.


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ins Griechische übersetzt, und aus dieser griechischen Version (den apomnhmon. des Justinus Martyr) schöpften unsere Evangelisten. Nach  F e i l m a s e r *) wurde eine solche frühe griechische Uebersetzung des aramäischen Matthäus in verschieden überarbeiteten Recensionen nur vom Marcus und Lucas gebraucht. Matthäus hingegen veranstaltete von seinem Evangelio eine neue vermehrte syrochaldäische Recension, aus der von einem Späteren (vielleicht von dem Johannes) mit Benutzung der alten griechischen Uebersetzung unser canonischer Matthäus übersetzt wurde.  S ch m i d t **) nimmt im Allgemeinen nur an, daß die drei ersten Evangelien unabhängige Uebersetzungen des aramäischen Matthäus (wahrscheinlich in verschiedenen Recensionen) sind, und macht darauf aufmerksam, daß manche Uebereinstimmungen erst durch spätere Veränderungen hervorgebracht seyn mögen.  B o l t e n  und  S e i l e r  vereinigen die Annahme eines aramäischen Matthäus als gemeinschaftlicher Quelle mit der Behauptung, daß die frühern Evangelisten von den Spätern genutzt seyen. Nach  B o l t e n ***) wurde aus dem aramäischen Original des Matthäus zuerst unser canonischer Matthäus übersetzt, Marcus benutzte zu seinem Auszuge beide Schriften, Lucas hatte sowohl den aramäischen und griechischen Matthäus, als den Marcus

    *) A. B.  F e i l m a s e r s  Einleitung in die Bücher des neuen Bundes. S. 52. ff. (Insbruck, 1810.).
    **)  S ch m i d t ' s  Einleit. in das N. T. Th. 1. S. 68.
    ***) J. A.  B o l t e n  der Bericht des Matthäus von Jesu dem Messia. Altona, 1792. - des Marcus 1795. - des Lucas 1796.


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vor sich. Nach  S e i l e r *) hingegen wurde ein kurzes aramäisches Evangelium Matthäi zuerst vom Marcus mit einigen Erweiterungen in das Griechische übersetzt. Nachher überarbeitete Matthäus sein syrochald. Evangelium und vermehrte es; eine unbekannte Person übersetzte aus dieser zweiten Ausgabe mit Zuziehung des Evang. Marci unsern canon. Matthäus. Lucas benutzte darauf sowohl das Evangelium Matthäi als Marci.
    Da die Hypothesen von a und b in Hinsicht ihres Werthes in Erklärung des Problems ganz zusammenfallen - denn man darf sich den ganzen syrochaldäischen Matthäus wie die meisten Theile des Evangeliums der Hebräer unter Gestalten denken, wie man sie gebraucht -; so werden sie auch von gleichen Schwierigkeiten gedrückt. Nimmt man an, daß die Evangelisten unmittelbar aus der syrochaldäischen Quelle schöpften, so bleiben ihre wörtlich übereinstimmenden Stellen unerklärt. Stellt man eine ältere griechische Uebersetzung, um dieß zu vermitteln, dazwischen, so muß man wieder zu wenig Uebereinstimmung des Ausdrucks finden. Besonders schwierig bleibt es anzugeben, wie die Stellen, in denen sich bei unsern Evangelisten wahre oder scheinbare Widersprüche finden, in der Quelle gestaltet gewesen seyn mögen. Es giebt nämlich unter diesen Mehrere, welche in Hinsicht des Ausdrucks so ähnlich sind, daß man nach jener Hypothese sie aus der gemeinschaftlichen Quelle nothwendig ableiten muß. Nur in einigen Bestimmungen - und

    *)  S e i l e r  dissertat. II. de tempore et ordine, quibus tria evangelia priora canonica scripta sunt. Erlang. 1805. 1806.


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diese sind zu wesentlich, als daß sie etwa in der Quelle ganz weggedacht werden könnten - weichen sie von einander ab *). Die Quelle muß also nur von Einem Evangelisten treu benutzt seyn, der Andere, oder wenn man zwischen ihm und der Quelle Recensionen annimmt, muß eine dieser Recensionen geändert und sich dennoch in Hinsicht des Ausdrucks strenger, als an andern Orten, wo doch Uebereinstimmung der Sachen sich findet, der Quelle angeschlossen haben. Eine sonderbare Art der Ueberarbeitung!
    c) Die neueste Hypothese dieser Art ist die Annahme eines  k u r z e n,  j e tz t  g a n z  u n b e k a n n t e n  s y r o ch a l d ä i s ch e n  U r e v a n g e l i i,  welche von  E i ch h o r n  zuerst vorgeschlagen wurde **). Im Ganzen ist diese Hypothese dieselbe mit der, durch welche derselbe Gelehrte das Verhältniß der Chronik zu den BB. Samuel und der Könige zu erklären sucht. So wie hier für die Abschnitte von Davids Regierung eine alte kurze Lebensbeschreibung Davids, die aber schon vorher manche verändernde und bereichernde Ueberarbeitungen erlitten habe, als gemeinschaftliche Quelle angenommen wird ***);

    *) So ist eine auffallende Gleichheit des Ausdrucks zwischen Matth. 21, 1-9., und Marc. 11, 1-9., und dennoch hat jener onon kai pwlon met' authj, dieser nur pwlon. - Eben so hat bei übrigens großer Uebereinstimmung in den Worten Marc. 10, 46. ekporeuomenou autou apo Ierixw. Luc. 18, 35. en tw eggizein auton eij Iericw. cf. Matth. 8, 28. sq. Marc. 5, 1. sq. Luc. 8, 26. sq.
    **) J. G.  E i ch h o r n  über den Ursprung der 3 ersten Evangelien in dessen Bibl. der bibl. Liter. Bd. 5. S. 761. (1794.).
    ***)  E i ch h.  Einleit. ins A. T. Th. 2. S. 512. Auch zur Würdigung der spätern Hypothese enthält die Critik den [sic] frühern


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so wie ferner die Harmonie des 1. Buchs der Könige mit 2. Chron. in dem Leben Salomos durch die gemeinschaftliche Benutzung einer kurzen Lebensbeschreibung Salomos, die mit jener des David verbunden gewesen sey, erklärt wird *), so nimmt der Herr Hofrath als Grundlage der Evangelien ebenfalls eine kurze Lebensbeschreibung Jesu in syrochaldäischer Sprache an, die etwa um die Zeit des Märtyrertodes Stephani verfaßt, nachher vielfältig überarbeitet und in verschiedenen syrochaldäischen Recensionen von den Evangelisten übersetzt sey.  M a t t h ä u s  legte die Recension A zum Grunde, stellte ihre erste Hälfte in eine andere Ordnung, und schaltete aus andern Quellen, wozu namentlich eine aramäische Schrift D gehörte, vieles ein.  L u c a s  legte eine andere Recension B zum Grunde, schaltete eine andere ältere Schrift c. 9-18. ein, und nahm aus jener Schrift D die Abschnitte, die er blos mit Matthäus gemein hat.  M a r c u s  übersetzte die Recension C, in welcher die Zusätze von A und B vereinigt waren, ins Griechische, und that selbst nur wenig Eigenes hinzu. So sind also die gemeinschaftlichen Abschnitte aller Evangelisten schon in dem Urevangelio enthalten gewesen, die des Matthäus und Marcus eigenthümliche Bereicherungen der Recension A, die des Marcus und Lucas eigenthümliche Bereicherungen der Recension B, die des Lucas und Matthäus endlich der Recension D eigen gewesen.
    Da dieser älteren Hypothese Eichhorns vorgeworfen

in  d e  W e t t e ' s  Beiträgen zur Einleitung in das A. T. Bd. 1. S. 14. ff. mehrere Winke.
    *) a. a. O. S. 548.


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wurde *, daß sie das häufige Zusammentreffen der Evangelisten, daß sich oft auf die kleinsten Zufälligkeiten des Ausdrucks erstreckt, unerklärt lasse, weil man von unabhängigen Uebersetzern derselben Schrift dieß ohne Wunder nicht erwarten dürfe, so begegnete der Verfasser bei der zweiten Aufstellung **) diesem Einwurfe dadurch, daß er aus jenen syrochaldäischen Recensionen des Urevangeliums auf die eben beschriebene Weise die drei Evangelisten nur aramäische Texte zusammenschreiben ließ, welche dann mit Hülfe älterer griechischer Uebersetzungen der Recensionen A und D ins Griechische übersetzt wurden.
    Der Uebersetzer des Matthäus gebrauchte beide griechische Versionen von A und D.
    Bei der Uebersetzung des Marcus wurde die griechische Version von A, soweit sie auf den Codex C paßte, benutzt - daher die Uebereinstimmung des Matthäus und Marcus in den gemeinschaftlichen Abschnitten.
    Bei der Uebersetzung des Lucas wurde die Uebersetzung von D genutzt, daher seine Uebereinstimmung mit Matthäus in den Abschnitten, welche er mit diesem allein hat. Von der Recension B (der gemeinschaftlichen Quelle des Lucas, und insofern sie auch in C enthalten war, des Marcus) hingegen war keine griechische Uebersetzung vorhanden, Marcus und Lucas übersetzten also diese Abschnitte unabhängig - daher ihre Abweichungen im Ausdrucke neben der Aehnlichkeit der Ideenfolge.

    *) S. bes.  H u g  Einleitung in die Bücher des N. T. Erstes Heft. Basel, 1797. S. 60-68.
    **) J. G.  E i ch h o r n ' s  Einleitung ins N. T. 1r Bd. Leipzig, 1804.


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    Die so entstandenen Evangelien erlitten aber - so fährt diese Hypothese fort -, wie früher, das Urevangelium, auch nachher noch Veränderungen, obgleich diese nicht so bedeutend waren und nur in einzelnen Glossemen und Wortvertauschungen bestanden. In der ersten und zweiten Generation wurden diese aus der Tradition, in der dritten und vierten aus apocryphischen Evangelien genommen. Weit bedeutender aber wurden seit dem Ende des 2. Jahrhunderts die Abänderungen der Evangelien nach Parallelstellen, indem man theils jeden Evangelisten mit sich selbst in analogen Stellen, theils seine Citate aus dem A. T. mit den LXX, theils die parallelen Abschnitte der Evangelisten mit einander verglich und zu conformiren suchte.

    Wenn wir von der historischen Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese absehen, so kann nicht geläugnet werden, daß sie die meisten Schwierigkeiten des Verhältnisses der Evangelien zu einander erklärt, und daß ihre etwanigen Mängel in dieser Rücksicht leicht verbessert werden können. Zu diesen gehört es namentlich, daß durch sie die wörtlichen Uebereinstimmungen des Marcus und Lucas nicht erklärt werden können, weil diese als unabhängige Uebersetzer eines aramäischen Textes ihrer gemeinschaftlichen Abschnitte gedacht werden. Der Herr Verf. stellt zwar die Stellen Marc. 1, 24. 24. und Luc. 4, 34. 35. als die  e i n z i g e n  Beispiele wörtlicher Uebereinstimmung zwischen Marcus und Lucas auf *), es sind ihm aber

    *)  E i ch h.  Einleit. ins N. T. Th. 1. S. 339.


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davon noch mehrere nachgewiesen *), die, wenn sie auch nicht  d u r ch g ä n g i g  in  a l l e n  Worten übereinstimmend sind, doch in minder wichtigen Ausdrücken so häufig zusammentreffen, daß sie einen gemeinschaftlichen griechischen Text vorauszusetzen scheinen **).
    Der Hypothese von einem aramäischen Urevangelio traten bald sehr viele Gelehrte bei, namentlich trugen sie vor, mehr oder weniger ins Detail eingehend:  R u ß w u r m,  Z i e g l e r,  H ä n l e i n,  K u i n o e l  und  B e r t h o l d t ***). Andere aber, namentlich  H e r d e r,  M a r s ch [sic]  und  G r a tz,  vereinigten sie mit der Annahme, daß die späteren Evangelisten auch ihre Vorgänger gebraucht hätten. Nach  H e r d e r +) wurde das aramäische Urevan=

    *) Recension dieses Buchs in d. A. L. Z. 1805. Nr. 127-132. (S. 379.).
    **) Luc. 6, 9. cf. Marc. 3, 4.
        Luc. 8, 18. cf. Marc. 4, 35.
        Luc. 8, 28. 33. 35. cf. Marc. 5, 7. 13. 15.
        Luc. 8, 49. 50. cf. Marc. 5, 35. 36.
        Luc. 9, 26. cf. Marc. 8, 38.
        Luc. 9, 45. cf. Marc. 9, 32.
        Luc. 9, 48-50. cf. Marc. 9, 37-40.
        Luc. 18, 18-24. cf. Marc. 10, 19-23.
        Luc. 20, 46. 47. cf. Marc. 12, 38-40.
        Luc. 21, 2. 4. cf. Marc. 12, 42. 44.
    ***)  R u ß w u r m  Untersuchung über den Ursprung der Evangelien etc. Th. 1. Ratzeburg, 1797.
        Z i e g l e r  Ideen über den Ursprung der 3 ersten Evangel. (in Gablers neuestem theol. Journ. Bd. 4. S. 417.).
        H ä n l e i n  Handbuch der Einleit. in das N. T. Th. 3. S. 30.
        K u i n o e l  comm. in libr. N. T. histor. T. I. pag. 4.
        B e r t h o l d t  Einleitung in die Schriften des A. u. N. T. Th. 3. S. 1205-1254.
    +)  H e r d e r  vom Erlöser der Menschen nach unsern 3 ersten Evangelien. 1796. (Werke. Th. 11.). - Bes. aber in: Regel der


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gelium des Matthäus zu einem vollständigern aramäischen Evangelium ausgearbeitet, vom Marcus aber griechisch übersetzt. Lucas nahm das Urevangelium ebenfalls zur Grundlage, benutzte aber dabei auch das Evangelium der Hebräer. Der spätere griechische Uebersetzer des Matthäus hat sowohl den Marcus als Lucas zu Hülfe genommen.
    Verwickelter ist die Hypothese, welche  M a r s h *) ausstellt: von dem aramäischen Urevangelium wurde, ehe es noch Zusätze erhalten hatte, eine griechische Uebersetzung gemacht. Später wurde die Urschrift auf folgende Art bereichert. In die Abschrift X (des Matthäus) kamen die Zusätze a und die neuen Abschnitte A, in die Abschrift Y (des Marcus) die Zusätze b und die neuen Abschnitte B, in die Abschrift Z (des Lucas) die Zusätze g und die neuen Abschnitte G. Bei einer Erneuerung wurden in die Abschrift X die Zusätze g und die Abschnitte G, in die Abschrift Y hingegen a und A, in die Abschrift Z endlich b und B eingetragen. Diese so vermehrten Codices wurden die Grundlagen unserer Evangelien; Matthäus verfaßte aus X sein aramäisches Evangelium, Marcus übersetzte aus Y, Lucas aus Z, beide mit Benutzung der alten griechischen Uebersetzung des Urevangelii. Hierbei aber nahmen Matthäus und Lucas

Zusammenstimmung unserer Evangelien und ihrer Entstehung und Ordnung. 1797. (Werke. Th. 12.).
    *)  H e r b e r t  M a r s h  Abhandlung über die Entstehung und Abfassung unserer ersten 3 canon. Evangelien (in dessen Anmerk. und Zusätzen zu J. D. Michaelis Einleit. in das N. T., übers. v. E. F. K. Rosenmüller. Th. 2. S. 137.). 1803.


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aus einer besondern Hülfsschrift b noch eigenthümliche Zusätze, die jetzt bei ihnen in einer verschiedenen Ordnung eingeschaltet stehen. Endlich wurde der aramäische Matthäus von einer spätern unbekannten Person ins Griechische übersetzt, wobei dieselbe die Evangelien Marci und Lucä vor Augen hatte.
    Neuerdings gab  G r a tz *) folgende einfachere Vorstellung von der Entstehung der Evangelien: Von dem aramäischen Urevangelio wurde für Antiochien früh eine griechische Uebersetzung gemacht, welche Lucas und Marcus, beide Begleiter Pauli, zum Grunde legten, und mit neuen Abschnitten, aus andern schriftlichen Fragmenten genommen, bereicherten. Matthäus hingegen arbeitete aus dem aramäischen Urevangelio sein aramäisches Evangelium, indem er manches aus eigener Erfahrung ergänzte, namentlich aber auch eine Spruchsammlung gebrauchte, welche mit einer von Lucas (C. 9-18.) eingeschalteten Chronologie sehr verwandt war. Der griechische Uebersetzer des Matthäus benutzte den Marcus stark, und trug aus demselben in seine Uebersetzung alle die Abschnitte über, welche gegenwärtig Matthäus und Marcus allein gemeinschaftlich haben. Die Abschnitte, welche Lucas und Matthäus gemeinschaftlich haben, sind später von Andern, theils aus dem Matthäus in den Lucas, theils umgekehrt, übergetragen.
    Obgleich sich gegen die einzelnen Formen, in denen die Hypothese vom Urevangelio aufgetreten ist, immer

    *) Neuer Versuch, die Entstehung der 3 ersten Evangelien zu erklären. Vom Pfarrer  G r a tz.  Tübingen, 1812.


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noch Einwendungen machen lassen; so muß man doch zugeben, daß dieselbe, ganz im Allgemeinen gehalten, allerdings das Verhältniß der Evangelien zu einander erklärt. Es läßt sich nicht läugnen, daß die Gleichheit dreier Schriftsteller in einigen Abschnitten und ihre größere oder geringere Verwandtschaft in Andern sich durch die Annahme erklären lasse, daß sie bald gleiche, bald mehr oder weniger verwandte Quellen in derselben oder in einer andern Sprache benutzten; und auf eben die Art lassen sich die eigenthümlichen Abschnitte eines jeden auf eigenthümliche Quellen zurückführen.
    Die einzelnen Formen der Hypothese, die genaueren Bestimmungen,  w e l ch e  Bearbeitungen des Urevangelii vorangegangen, und  w i e  dieselben von den Evangelisten genutzt sind, beruhen aber mehr oder weniger alle auf subjectiven Ansichten; es können mehrere gleich gut das Problem lösen, aber schwerlich wird je eine Einzelne auf allgemeine Annahme Ansprüche machen können. Denn:
    1. Das Factum liegt ja nach den Untersuchungen derselben Männer, welche diese Hypothese aufgestellt haben, nicht mehr rein vor. Viele Stellen der Evangelien sind später erst mit einander conformirt, andere aus einem in das andere Evangelium übergetragen. Je stärker man sich diese spätern Ueberarbeitungen denkt, desto geringer wird die ursprüngliche Verwandtschaft der Evangelien, desto geringer muß also auch die Zahl der Abschnitte werden, die aus ganz identischen Quellen gemeinschaftlich geschöpft sind, wie dieß besonders aus einer Vergleichung der Gratzischen Hypothese mit der Eichhornischen erhellt.


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    2. Hat man sich aber auch über die ursprüngliche Beschaffenheit des Textes unserer Evangelien vereinigt, so lassen sich die Quellen derselben doch nur dann nachconstruiren, wenn man über die Art einig ist, wie die Evangelisten ihre Quellen benutzten. Leicht wird man bei den wörtlich übereinstimmenden Stellen sich zwar über eine gemeinschaftliche griechische Quelle, bei den Abschnitten, wo sich nur gleicher Ideengang findet und nur einzelne Worte zusammentreffen, über den gemeinschaftlichen Gebrauch einer aramäischen Quelle etwa in Verbindung mit einer früheren griechischen Uebersetzung vereinigen; wo aber ein Evangelist weitläufiger ist, als der Andere, wo er ganz eigenthümliche Abschnitte hat; dürfte da nicht den  E i n e n  Forscher die Annahme, daß jener Evangelist eigene Reminiscenzen eingetragen habe, eben so befriedigen, als den  A n d e r n,  daß jene Vollständigkeit schon der besondern Quelle des Evangelisten eigen gewesen sey?
    3. Wenn man darauf nun auch über die Abschnitte übereingekommen ist, worin alle Evangelisten mit oder ohne Hülfe einer ältern Version aus vorliegenden Quellen schöpften, und wo jeder Eigenthümliches hinzuthat; so lassen sich doch diese Quellen der einzelnen Abschnitte zu mehrern oder wenigern aramäischen und griechischen  g a n z e n  Schriften zusammenordnen. Sie können eben so gut einzelne Apomnemoneumata gewesen und von den Evangelisten nach dem Faden des Urevangelii zusammengeordnet seyn, als vollständige Recensionen des Urevangelii. Nimmt man auch das Letzte an, so kann man ferner diese Abschnitte in mehr oder weniger Recensionen nach Willkühr vertheilen, so daß jeder Evangelist entwe=


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der schon  E i n e  vervollständigte Recension vor sich hatte, oder daß er  M e h r e r e  nutzte und die Eine aus der Andern selbst vervollständigte.
    4. Wenn auf diese Art die Bestimmung der  u n m i t t e l b a r e n  Quellen der Evangelisten schon ganz auf subjectiven Ansichten beruht; so ist dieß noch mehr der Fall mit der Entwickelung der Art, wie jene unmittelbaren Quellen aus dem Urevangelio entsprungen sind. Da auch die Bereicherungen des Urevangelii, welche in jenen enthalten waren, zum Theil mit einander verwandt gewesen seyn müssen (nämlich die Abschnitte, welche jetzt nur zwei Evangelisten gemeinschaftlich haben); so öffnet sich jetzt ein weites Feld der Willkühr; eine Recension aus der Andern vervollständigen zu lassen.
    Die erschienenen Entwickelungen der Hypothese von einem Urevangelio haben daher nur den Werth, daß sie die Möglichkeit verdeutlichen, vermittelst jener Hypothese das Verhältniß der Evangelien genetisch zu erklären. Mit ihnen fällt die Hypothese im Allgemeinen durchaus nicht, und es kann auch dieser nicht als ein Mangel vorgeworfen werden, daß sie nicht in einer genau bestimmten Form auftreten kann; denn dazu sind wir von allen Daten zu sehr entblößt.
    So wenig aber dieser Hypothese eine mangelhafte Erklärung des Factums vorgeworfen werden kann, so viel steht ihr in historischer Rücksicht entgegen. Sie setzt historische Facten ohne Zeugnisse voraus, und muß deshalb nothwendig sich auch historisch rechtfertigen. Die Behauptung, daß die Critik aus dem Verhältnisse der Evangelien zu einander eben so nothwendig die Existenz


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eines Urevangelii schlösse, als der mathematische Geograph aus Petrefacten, die in südlichen Ländern gefunden werden, beweise, daß diese Länder einmal ein nördliches Clima hatten *), zerfällt in sich selbst, sobald ein anderer historisch erwiesener Weg eben so gut jenes Verhältniß erklärt. Wenn also diese Schutzmauer der Hypothese, womit sie sich gegen alle Anfälle der Geschichte wehrt, nämlich die Behauptung, daß das Verhältniß der Evangelien in sich  n o t h w e n d i g  ein schriftliches Urevangelium voraussetze, wenn - sage ich - diese Schutzmauer niedergerissen ist, so kann sie sich vor einer andern Hypothese, die das Factum eben so gut erklärt, nur auf historischem Wege den Vorzug verdienen, durch den Beweis, daß sie sich der Geschichte am Besten anschließe.
    Wenn dagegen dargethan ist:
    1. daß jene Hypothese durchaus keine historische Spuren mit Sicherheit für sich benutzen kann;
    2. daß viele historische Daten ihr widersprechen; und
    3. daß ein anderer Weg, der sich historisch rechtfertigen läßt, die Entstehung der Evangelien in ihrem jetzigen Verhältnisse zu einander völlig erklärt;
so muß unstreitig dieser, insofern er den oben aufgestellten Forderungen, die an eine historische Hypothese gemacht werden müssen, besser entspricht, den Vorzug verdienen.

    *)  B e r t h o l d t ' s  Einleit. Th. 3. S. 1209.

[Top]


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§. 5.

I n  d e m  f r ü h e st e n  a p o st o l i s ch e n  Z e i t a l t e r  i st  d a s  E v a n g e l i u m  z u m  B e h u f  d e r L e h r v o r t r ä g e  n i ch t  a u f g e s ch r i e b e n,  s o n d e r n  n u r  m ü n d l i ch  f o r t g e p f l a n z t.

    Gleich bei den ersten Bestimmungen über das Urevangelium collidiren zweierlei Rücksichten. Insofern man erwägt, daß so viele Recensionen davon vorhanden waren, und von den drei Evangelisten sowohl, als den Verfassern der apocryphischen Evangelien in den verschiedensten Ländern benutzt wurden, möchte man eine weite Verbreitung desselben annehmen; auf der andern Seite wird man, da es so ganz spurlos verschwunden ist, geneigt, den Kreis seines Gebrauchs so viel als möglich einzuschränken. Es ist auf verschiedene Arten versucht, das Urevangelium durch diese beiden historischen Klippen hindurch zu bringen; aber ganz scheint es damit nicht geglückt zu seyn. Nach  E i ch h o r n  rührte es zwar nicht von den Aposteln selbst, sondern von einem ihrer Gehülfen her *), wurde aber den apostolischen Gehülfen auf ihren Missionsreisen mitgegeben, theils als historisches Formular zum Gebrauche beim Unterrichte, theils als Beglaubigungsschrift ihres Unterrichts **). Ursprünglich war es für die Missionsreisen unter Juden aramäisch verfaßt, wurde aber nachher von einem Hermeneuten ins Griechische übersetzt ***). Man begreift bei dieser Stel=

    *)  E i ch h.  Einl. ins N. T. Th. 1. S. 44.
    **) a. a. O. S. 3. 4.
    ***) a. a. O. S. 183.


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lung der Hypothese nicht, wie eine Schrift, die doch nicht von den Aposteln herrührte, ja selbst nicht einmal ganz die Billigung derselben erhalten hatte *), doch für eine Beglaubigungsschrift auf Missionsreisen gelten, und nach Bearbeitungen von vielen unbekannten Händen dennoch von einem  A p o st e l  - Matthäus - gebraucht werden konnte. Nach einem ähnlichen Beispiele der Art zu urtheilen, so war es übrigens dem Character der apostolischen Zeit gemäßer, die Aechtheit einer Schrift durch ein mündliches Zeugniß, als umgekehrt das mündliche Zeugniß durch eine Schrift zu beglaubigen. Denn dem Briefe der Apostel an die Antiochenische Gemeinde werden Judas und Silas ausdrücklich deswegen zugegeben, damit sie durch ihr mündliches Zeugniß demselben Glauben verschaffen sollen **). In diesem Falle war also die Schrift minder glaubwürdig, als das mündliche Zeugniß, bei dem Urevangelio soll das umgekehrte Verhältniß geherrscht haben; und dennoch rückt Lucas  j e n e n  B r i e f  in seine Apostelgeschichte ganz ein, giebt aber von dieser  w i ch t i g e r n  S ch r i f t,  die überdieß als ein Beweis der Sorgfalt der Jünger für die Reinerhaltung des Evangelii eine vorzüglich ehrenvolle Erwähnung in der Apostelgeschichte verdiente, die Lucas in erweiterten Recensionen selbst benutzte, so wenig Nachricht, daß er vielmehr in der Vorrede seines Evangelii es zu verhüllen scheinen muß, wenn er von einer neuen genauern Erfor=

    *) a. a. O. S. 411. Nr. 4. Matthäus mußte die Begebenheiten des ersten Theils umstellen. "Ein Apostel würde ihnen gleich Anfangs eine bessere Stelle nach der Zeitordnung gegeben haben."
    **) Act. 15, 27. cf. v. 32.


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schung der Thaten Jesu als der Quelle seines Evangelii redet *).
    H e r d e r  sucht diesen Einwürfen dadurch zu begegnen, daß er jene Diegese ein nicht herausgegebenes Evangelium, eine Privatschrift in den Händen der Evangelisten nennt **), die von den drei Aposteln, Petrus, Jacobus und Johannes als Paradigma des historischen Evangeliums ***), als eine Anweisung zum Evangelistenamte verfaßt sey. Aber eine  g e h e i m e  Schrift der Lehrer war sie doch wohl nicht, denn wozu sollte sie verborgen gewesen seyn, da ihr Inhalt doch öffentlich gepredigt und nachher erweitert herausgegeben wurde? War sie aber allgemeiner bekannt, so bleibt immer das tiefe Schweigen über sie unerklärt. Ihm nähert sich  B e r t h o l d t +), nach welchem das Urevangelium als Grundnorm des historisch=dogmatischen Unterrichts von sämmtlichen Aposteln, als sie noch in Jerusalem zusammen waren, entworfen, aber nur von  E i n e m  (nicht Matthäus, denn dieser spielte eine zu untergeordnete Rolle) concipirt, nicht

    *) Ueberhaupt steht die Vorrede des Lucas der Hypothese von einem Urevangelio in der That eben so sehr entgegen, als sie auf den ersten Anblick dieselbe zu begünstigen scheint.  V i e l e  hatten zwar vor ihm das Evangelium geschrieben, aber er war doch offenbar von ihrer Arbeit nicht befriedigt, weil er die seinige sonst für überflüssig gehalten haben würde. Durfte er denn die apostolische Diegese, die so weit verbreitet, und Grundnorm des evangel. Unterrichts war, dadurch mit unter die "Viele" begreifen, daß er ihrer nicht besonders erwähnte? Offenbar waren die Syngraphen, die er kannte, nur Privatschriften, wie die seinige selbst.
    **)  H e r d e r s  Regel der Zusammenstimmung unserer Evangelisten. Th. 12. S. 38.
    ***) a. a. O. S. 12.
    +)  B e r t h o l d t ' s  Einleit. Th. 3. S. 1205.


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e d i r t,  aber auch nicht als  g e h e i m e  Schrift betrachtet ist. Ueber den Untergang desselben dürfen wir uns nicht wundern, da es gleich den übrigen Evangelien von den 4 canon. Evangelien verdrängt wurde. - Ob eine Schrift, die  a l l e n  Evangelisten mitgetheilt und keinem Christen mit Fleiß vorenthalten wurde, im Alterthume, wo doch alle Bücher nur durch Abschriften verbreitet wurden, für  n i ch t  e d i r t  gelten, und deshalb spurlos verschwinden konnte, mußte bezweifelt werden. Denn das Urevangelium existirte ja auf jeden Fall in mehreren Exemplaren, als viele apocryphische Evangelien späterer Zeiten; und dennoch haben wir von diesen mehr oder weniger Nachrichten, von jener  ä ch t  a p o st o l i s ch e n  Schrift keine Spur! Ueberdieß hat es noch seine eigenen Schwierigkeiten, das Urevangelium so allein in den Händen der Evangelisten zu lassen. Niemand wird es doch läugnen, daß den Aposteln daran gelegen seyn mußte, eine genaue Kenntniß des Lebens Jesu so viel als möglich unter den Gemeinden zu verbreiten. Nimmt man nun an, daß sie eine Diegese für das sicherste Mittel hielten, die Evangelisten genau mit dem Leben Jesu bekannt zu machen; so muß man in diesem einmal supponirten Geiste auch weiter schließen, daß den Aposteln dieselbe für die Gemeinden noch weit nothiger däuchte [sic]. Denn die Evangelisten waren, wenn auch nicht selbst, Zeugen des Lebens Jesu, doch genauer von den Aposteln unterrichtet, und da sie so oft dieselben Erzählungen wiederholen mußten, so wurden sie doch gewiß bald derselben genau kundig, und jener ärmlichen Stütze unbedürftig. Die Gemeinden hingegen, die nur auf kürzere Zeit Apostel bei sich hat=


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ten, waren in der That einer solchen Syngraphe bedürftiger, und es wäre unbegreiflich, warum die Apostel sie auch nicht ihnen mittheilten, wenn sie eine solche für die Evangelisten angefertigt hätten. Dann aber wäre ihr nachheriges Verschwinden freilich noch unbegreiflicher.
    Es ist indeß von mehreren Vertheidigern des Urevangelii, am umständlichsten von  B e r t h o l d t *), versucht worden, historische Spuren für dasselbe als  m i t t e l b a r e  Zeugnisse aufzufinden:
    1. Die Namen apomnhmoneumata twn Apostolwn, euaggelion twn Apostolwn bedeuteten doch wohl eine von  s ä m m t l i ch e n  A p o st e l n  v e r f a ß t e  Schrift. Wenn man auch im zweiten und dritten Jahrhunderte Schriften so nannte, denen dieser Name nicht gebührte, so folgt doch daraus, daß eine  a l t e  S a g e  den Aposteln ein Evangelium zuschrieb, daß diese aber später mißverstanden, und auf andere Schriften bezogen wurde. Dieselbe Sage hat auch noch andere falsche Deutungen erfahren, z. B. die Nachricht von dem Ursprunge des apostolischen Glaubensbekenntnisses. - Es ist schon oben von der Bedeutung des "evangelium apostolorum" die Rede gewesen. So wenig sich aus dem "evangelium Christi" der Marcioniten etwas für eine alte Sage, daß Christus ein Evangelium geschrieben habe, folgern läßt, so wenig scheint dieß hier geschehen zu dürfen. Beides waren Benennungen des Evangeliums im Allgemeinen, bei Ketzern wie bei Orthodoxen gewöhnlich, die eigentlich nur die Aechtheit des Evangeliums bezeich=

    *) a. a. O. S. 1208-1223.


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nen sollten, dann aber freilich auch dahin mißverstanden wurden, daß Christus und die Apostel selbst gewisse Syngraphen des Evangeliums verfaßt hätten. Daß ferner die Erzählung von der Entstehung des apostolischen Symbolums aus der Doppelsinnigkeit des Worts sumbolon entstanden ist, haben schon Viele bemerkt.
    2. Justinus Martyr gedenkt eines apomnhmoneuma Petrou *) - ein Beweis, daß Petrus das Urevangelium  i n  H ä n d e n  h a t t e  u n d  g e b r a u ch t e.  - Das "autou," welches hier auf Petron bezogen wird, möchte wohl passender, wie das vorhergehende auton, auf Christum bezogen werden, von dem in der ganzen Stelle als dem "autoj" (wie im Pythagoräischen autoj efa) die Rede ist **). Bezieht man es indeß auf Petrus, so würde der natürliche Sinn der Worte wohl die Abfassung eines Evangelii vom Petrus, keineswegs aber den bloßen Gebrauch eines solchen andeuten.
    3. In den Briefen Pauli kommen nicht undeutliche Spuren vor, daß auch Paulus das Urevangelium gebraucht habe. Wahrscheinlich bezeichnet er es an mehrern Stellen durch kurioj ***), wie auch die Marcioniten ihr Evangelium o kurioj nannten. - Da weiter unten ausführlich bewiesen werden soll, daß in den Paulinischen Briefen nie eine Spur von schriftlicher Abfas=

    *)  I u s t.  M a r t.  Dial. c. Tryph. p. 333. kai to eipein metwnomakenai  a u t o n  Petron ena twn Apostolwn, kai gegrafqai en toij apomnhmoneumasin  a u t o u  gegenhmenou kai touto k. t. l.
    **) So auch Lardner Glaubw. d. evangel. Gesch. übers. von D. Bruhn. Th. 2. Bd. 1. S. 487.
    ***) 1 Cor. 11, 23. 7, 25. 2 Cor. 11, 17. 1 Cor. 9, 14. etc.


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sung des Evangelii gefunden wird, so darf ich in Hinsicht der ersten Behauptung dahin verweisen. Die zweite Combination ist zwar allerdings sehr scharfsinnig und blendend, möchte aber wohl keine Haltbarkeit haben. Denn wie könnte sich Paulus beständig auf ein  n i ch t  e d i r t e s  Evangelium berufen, was nur er und seine Evangelisten kannten, auf einen kurioj, der allen Gemeinden  u n b e k a n n t  war? Offenbar will er durch solche Zusätze seinen Befehlen Nachdruck geben, und dieß konnte er wohl am Besten durch Berufung auf Jesum, das Haupt der Kirche (kefalh thj ekklhsiaj. Eph. 1, 22. 4, 15. 5, 23. Col. 1, 18.). Daß übrigens die Marcioniten ihr Evangelium o kurioj genannt hätten, kann nicht verbürgt werden, wir wissen nur, daß  s p ä t e r e  Marcioniten (es ist sogar ungewiß, ob zu irgend einer Zeit Alle?) behaupteten, Christus habe ihr Evangelium geschrieben *).
    Um den positiven Gegenbeweis gegen das Urevangelium zu führen und zu zeigen, daß ein solches in den frühesten apostolischen Zeiten nicht existiren konnte, ist es nöthig, aus unserer Zeit und ihren Verhältnissen uns ganz herauszureißen, und uns in den Geist des Urchristenthums ganz hinein zu denken. Dieß mag die Weitläufigkeit des Folgenden entschuldigen.
    So reich um die Zeit Jesu die Literatur der Griechen und Römer war, so arm war die der Palästinensischen Juden. Bei jenen waren schon seit dem 6. Jahrhunderte vor Christo die früheren Sagen von Logogra=

    *) S. oben über das Evangelium Marcions Anm.


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phen gesammelt, und die folgende Geschichte successive entweder von gleichzeitigen oder bald nach den Begebenheiten lebenden Schriftstellern niedergeschrieben; bei den Juden war mit ihrer Selbständigkeit auch die Periode der Blüthe ihrer Literatur untergegangen, und wenn nach Esra's und Nehemia's Zeiten auch einzelne Schriftsteller aufstanden, so waren ihre Producte doch so wenig geachtet, daß dieselben nur in griechischen Uebersetzungen durch die  a l e x a n d r i n i s ch e n  Juden auf die Nachwelt kommen konnten. Nach den Zeiten des Antiochus Epiphanes zog sich das gemißhandelte Volk immer mehr auf sich selbst zurück voll bittern Hasses gegen alles Fremde, den es auch wohl nicht allein auf fremde Literatur, sondern überhaupt auf die fremdartige Polygraphie übertrug. Sie glaubten, daß alles zum Heile des Volkes Nöthige ihnen schon in den heiligen Schriften gegeben sey, und hielten daher nicht eigene schriftstellerische Thätigkeit, sondern die Fähigkeit, diese heiligen Schriften zu verstehen, für ein Kennzeichen von Weisheit *). Dagegen war Tradition bei ihnen desto ungewöhnlicher. Selbst ihre heiligen deuterwseij, die, seit dem babylonischen Exilium ausgebildet, im neuen Testamente als hoch angesehen im Volke erwähnt werden, wurden trotz dieses Ansehens bis 200 Jahr n. Chr. nur von Mund zu Mund fortgepflanzt, ohne daß die Gelehrten - die eigentlichen Erhalter dieser

    *) Ioseph. Ant. Iud. XX. am Schlusse: par' hmin gar ouk ekeinouj apodexontai touj pollwn eqnwn dialekton ekmaqontaj, - - monoij de sofian marturousi, toij ta nomima safwj epistamenoij, kai thn ierwn grammatwn dunamin ermhneusai dunamenoij.


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Sagen - das Bedürfniß gefühlt hätten, sie durch schriftliche Aufzeichnungen zu fixiren. Noch weniger dachten ächt hebräische Juden an Abfassung historischer Werke; dieß gesteht Josephus selbst, wenn er am Schlusse seiner Archäologie seine griechische Bildung als den Grund angiebt, weswegen er mehr als andere gelehrte Juden im Stande gewesen sey, ein solches Werk zu verfassen. Hebräische Geschichtsbücher findet man daher seit den letzten Schriften des A. T. bis auf die neueren Zeiten nicht mehr, denn die sogenannte Geschichte in dem misnischen [sic] Tractat Pirke Abcth [sic], in der Responsio R. Serirae um 967 pl. (im Buche Juchasin eingeschaltet), in den beiden Soder olam in dem Sepher hakkabalah des Abraham ben Dior (1161 p. C.) besteht blos aus Aufzählungen der Successionen der Lehrer.
    Wenn nun aber schriftstellerische Thätigkeit selbst unter den gelehrten Ständen so selten, und mündliche Tradition das vorzüglichste Mittheilungsmittel war, so muß dieß in den niedern Ständen - und dazu gehörten sowohl die Apostel als bei weitem die meisten Christen *) - noch weit mehr der Fall gewesen seyn. Daher finden wir auch, je höher wir in der christlichen Kirchengeschichte hinaufgehen, desto weniger Schriftsteller, und befragen wir darüber spätere Kirchenväter, so antworten sie, daß man in diesen Zeiten die Abfassung von Büchern für un=

    *) Agrammatoi - idiwtai. Act. 4, 13.  Daher  u r s p r ü n g l i ch  der Name Mynwyb) für  a l l e  Christen.  cf. Orig. c. Cels. II. init. Ebionaei dicuntur e caeteris Iudaeis, qui Iesum pro Christo receperunt. - Iac. 2, 5. oux o qeoj ecelecato touj  p t w x o u j  tou kosmou; etc.


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wesentlich, aber das lebendige Wirken durch mündliche Vorträge für den eigentlichen Beruf des christlichen Lehrers gehalten, und sich daher nur wegen der besondern Bedürfnisse Einzelner zu Schriften entschlossen habe. Insbesondere lichtvoll darüber ist folgende Stelle eines Alexandriners des dritten Jahrhunderts:
    "Unsere Vorfahren schrieben nicht, denn sie wollten von dem Lehrgeschäfte der Tradition keine Zeit zum Schreiben abmüßigen, und sich die Zeit zur Vorbereitung auf ihre Vorträge nicht nehmen, um Schriften zu verfassen. Da sie aber vielleicht einsahen, daß die beiden Arten der Belehrung durch Schriften und durch mündlichen Unterricht nicht Erweckungsmittel gleicher Art wären, so gaben sie denen nach, die jener mehr empfänglich waren *)."
    Zwar gingen die Ketzer zu weit, welche, um sich wegen der Nichtannahme des Canons zu vertheidigen, behaupteten, die Apostel hätten überhaupt  g a r  n i ch t s  geschrieben,  n u r  mündlich das Evangelium hinterlassen **),

    *) Eclogae ex script. Prophet. c. 27. hinter Clem. Alex. ed. Potter. T. II. p. 996.: Ouk egrafon de oi presbuteroi, mhte apasxolein boulomenoi thn didaskalikhn thj paradosewj frontida th| peri to grafein allh| frontidi, mhde mhn ton tou proskeptesqai ta lexqhsomena kairon katanaliskontej eij grafhn, taxa de oude thj authj fusewj katorqwma, to suntaktikon kai didaskalikon eidoj einai pepeismenoi, toij eij touto pefukosi sunexwroun.
    **) Iren. adv. haer. III, 2. Non per literas traditam illam (paradosin), sed per vivam vocem, ob quam causam et Paulum dixisse: sapientiam autem loquimur inter perfectos. Daraus folgerten sie den geringsten Werth der Schriften, quasi non recte habeant, nec sint ex auctoritate et quia varie sint dictae etc. Orig. contra Marcion. dial. II. p. 543. A.  E u t r o p.  Age


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und deshalb müsse man nur aus der Tradition die reine apostolische Lehre schöpfen; aber ihre Behauptungen stützten sich doch auf alte, wenn auch von ihnen nach dogmatischen Zwecken übertriebene Sagen. Denn auch die Orthodoxen konnten es nicht läugnen, daß die Apostel  A n f a n g s  nur das Evangelium mündlich gepredigt hätten, wenig bekümmert um die Niederschreibung desselben, weil sie  j e n e s  Geschäft für größer und erhabener hielten *). Deshalb - setzt Eusebius hinzu - habe auch Paulus, ein sonst so beredter und so hoher Erkenntniß gewürdigter Mann, nur sehr kurze Briefe hinterlassen (er war Diener des Geistes, nicht des Buchstabens, weit und breit predigte er das Evangelium, aber nicht an alle Gemeinden, die er gestiftet hatte, schrieb er Briefe, und die, welche er schrieb, bestanden nur aus wenig Zeilen **); deshalb hätten aus der Zahl der Schüler nur zwei - Matthäus

hoc mihi dicas: Praedicarunt et evangelium promulgarunt omnes? Marcus Praedicarunt. Eutrop. Scriptisne prodita praedicarunt annon? Marcus. Nihil scriptis relictam.
    *) Iren. adv. haer. III, 1. Non enim per alios dispositionem salutis nostrae cognovimus, quam per eos, per quos Evangelium pervenit ad nos, quod quidem tunc praeconiaverunt, postea vero per Dei voluntatem in scripturis nobis tradiderunt.
        Euseb. h. e. III, 24. - - thj twn ouranwn basileiaj thn gnwsin epi pasan kathggellon thn oikoumenhn:  s p o u d h j  t h j  p e r i  t o  l o g o g r a f e i n  m i k r a n  p o i o u m e n o i  f r o n t i d a.  k a i  t o u t '  e p r a t t o n,  a t e  m e i z o n i  k a i  u p e r  a n q r w p o n  e c u p h r e t o u m e n o i  d i a k o n i a.
    **) Orig. (ap. Euseb. 6, 25.) o de ikanwqeij diakonoj genesqai thj kainhj diaqhkhj, ou grammatoj alla pneumatoj, Pauloj - - - oude pasaij egrayen aij edidacen ekklhsiaij: alla kai aij egrayen, oligouj stixouj epesteile.


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und Johannes - Evangelien geschrieben, und auch diese hätten,  w i e  e s  d i e  S a g e  v e r s i ch e r e,  nur der Nothwendigkeit nachgebend geschrieben *).
    Wir dürfen diese Stellen nicht als unbedeutende Declamationen späterer Zeiten abweisen. Denn zuerst harmoniren sie mit dem Geiste der palästinensischen Juden, aus denen das Christenthum hervorging, zu auffallend; dann muß man doch Eusebius Versicherung bei einem innig mit dem Ganzen zusammenhängenden Theile seiner Stelle, daß er eine Sage referire, berücksichtigen; endlich aber disharmonirt der Geist dieser Ansichten mit den dogmatischen Bedürfnissen der damaligen Orthodoxen so, daß wir uns dieselben nur als von einem frühern Zeitalter auf diese vererbt denken können. Sie boten alles auf, den hohen Werth der heiligen Schriften den Ketzern zu beweisen; wie konnten sie zu gleicher Zeit diesen dadurch die Waffen gegen sich in die Hände geben, daß sie zugestanden, auch die Apostel hätten den mündlichen Unterricht dem schriftlichen weit vorgezogen? Sonst sind später entstandene Sagen daran leicht zu erkennen, daß das spätere Zeitalter unkritisch genug  s e i n e  Individualität in ihnen hervortreten ließ, wie sehr weichen aber jene Ansichten von der polygraphischen Zeit eines Eusebius ab!
    Diese Sagen verdienen also Berücksichtigung, und wir müssen die eigenthümliche  L a g e  und die  S ch r i f t e n  der Apostel durchprüfen, ob sie auch hier ihre Bestätigung finden.

    *) Euseb. III, 24. ouj (Matqaion kai Iwannhn) kai  e p a n a g k e j  epi thn grafhn elqein  k a t e x e i  l o g o j.


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    Soviel geht schon aus dem früher Beigebrachten hervor, daß die Apostel nach ihrer Lage  o h n e  b e s o n d e r e  G r ü n d e  nicht darauf kommen konnten, schon früh ein Evangelium zu schreiben, da selbst die Gelehrten ihrer Nation ihre heiligen deuterwseij durch mündliche Tradition erhielten. Die Vertheidiger des Urevangelii finden diese besondern Gründe in der Nothwendigkeit, welche die Apostel bald fühlen mußten, theils selbst in ihren Erzählungen übereinzustimmen, theils ihren Gehülfen eine Norm zur Einrichtung ihrer historischen Vorträge zu geben.
    Daß jene Nothwendigkeit vorhanden war, läßt sich nicht leugnen, [sic] und ohne Zweifel würden die Apostel zu dem Mittel einer schriftlichen Diegese gegriffen haben, wenn sie im Geiste unsers Zeitalters gebildet gewesen wären: ob es ihnen in ihrer Lage gleich nahe lag, muß erst geprüft werden.
    Ohne die oft besprochene Frage zu erneuen, ob die Apostel, außer Matthäus und Paulus, überhaupt schreiben konnten, wollen wir gleich das Höchste zugeben, daß sie nämlich ungefähr so fertig schrieben, wie der gemeine Mann in unsern Zeiten. Und wenn man den damaligen Mangel an allgemeinen Bildungsanstalten gegen die Menge unserer Landschulen, die Entbehrlichkeit der Schreibekunst in jenem oligographischen Zeitalter gegen die in unsern Zeiten so dringende Nothwendigkeit derselben, und endlich die Schwierigkeit, mit der damals bei der Unbequemlichkeit des Alphabets und der Unbehülflichkeit der Schreibmaterialien einige Fertigkeit im Schreiben erworben werden konnte, gegen die Leichtigkeit, womit man jetzt dazu gelangen kann, hält: so wird man es nicht


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einmal wahrscheinlich finden, daß galiläische Fischer, die durch Jesu Unterricht zwar in Weisheit aber nicht in mechanischen Fertigkeiten zugenommen hatten, so geläufig schreiben konnten, als der gemeine Mann in unsern Zeiten. Würde aber dieser wohl, um ähnliche Absichten, wie die oben angedeutet sind, zu erreichen, nicht die mündliche Abrede der ihm immer noch mühsamern schriftlichen Abfassung vorziehen?
    Indessen fragt es sich billig, ob wir bei jenen Orientalen neben ihrem Enthusiasmus für Jesum wohl eine solche diplomatische Genauigkeit in Conformirung ihrer Erzählungen vermuthen dürfen? Ließ die lebendige Erinnerung an das Leben Jesu sie wohl die Möglichkeit eines Widerspruchs befürchten? Sie gaben mit zu großer Kraft ihr Zeugniß, als daß sie sich an todte Buchstaben hätten fesseln können *), sie waren es sich zu sehr bewußt, selbst deutlich gesehen und gehört zu haben, sie fühlten sich zu sehr gedrungen, ihre eigenen Erfahrungen auszusprechen **), als daß sie ihr lebendiges Andenken an fremde Ausdrücke hätten binden können.
    Wohl schwerlich konnte also in diesem begeisterten Apostelkreise der Gedanke entstehen, durch eine schriftliche Norm ihren evangelischen Predigten Uebereinstimmung zu verschaffen; aber war es nicht anders, als auch andere, die nicht Augenzeugen gewesen waren, sich zur Predigt

    *) Act. 4, 33. kai megalh dunamei apedidoun to marturion oi apostoloi thj anastasewj tou kuriou Ihsou.
    **) Act. 4, 20. ou dunameqa gar hmeij, a eidomen kai hkousamen, mh lalein. cf. 2 Petr. 1, 16.


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des Evangelii mit ihnen verbanden? Bedurften diese nicht einer Diegese als Leitfaden bei ihren Vorträgen?
    Die ersten Nichtapostel, welche das Evangelium predigten, waren die Gläubigen, welche aus der engsten Verbindung, in der sie mit den Aposteln in Jerusalem zusammen lebten, durch die Verfolgung gerissen wurden, welche der Steinigung des Stephanus folgte. Sie zerstreuten sich vorzüglich in Judäa und Samaria *), gingen aber auch zum Theil nach Phönicien und Cypern **) und zu ihnen gehörten auch die Cyprier und Cyrenäer, welche zuerst in Antiochien den Heiden das Evangelium predigten ***). Hier in Antiochien bildete sich unter Paulus und Barnabas die erste Missionsanstalt für die Heiden, bei der die Apostel sich völlig leidend verhielten.
    In welchem Puncte dieser Missionsgeschichte soll die Abfassung einer Diegese ihren Platz finden? Die ersten Missionen wurden so plötzlich durch jene Verfolgung veranlaßt, daß die Glieder der Gemeinde von Jerusalem nicht erst mit Diegesen versehen werden konnten, als die Verfolgung ausbrach. Die Diegese müßte erst dann angefertigt und herumgeschickt seyn, als schon in allen jenen Ländern Viele bekehrt  w a r e n.  Dann war sie aber theils nicht mehr nothwendig, theils wird alsdann das Stillschweigen des Lucas über diese Versendungen ganz unerklärlich.
    Aber bedurften denn diese ersten Missionaire [sic] eines solchen schriftlichen Entwurfs? Nach Ephes. 4, 11. gab es

    *) Act. 8, 1.
    **) Act. 11, 19.
    ***) Act. 11, 20.


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eine besondere Classe von Lehrern "Evangelisten," welche nach den Erklärungen der Kirchenväter das Geschäft (ergon euaggelistou. 2 Tim. 4, 4.) hatten, denen, die noch nichts von Christo gehört hatten, das Evangelium zu predigen, das heißt, theils ihnen den historischen Beweis der Messianität Jesu vorzutragen, theils sie durch Ermahnungen zur Annahme des Christenthums und, wenn sie es angenommen hatten, zur Beharrlichkeit in demselben zu ermuntern *). Wenn der Grundsatz der Apostel, daß der vor allen andern geschickt sey, von Jesu zu zeugen, der ihn selbst gehört und gesehen habe, auch hier angewandt wurde; so mußten sie bei der Auswahl der Evangelisten vorzüglich auf die 70 Jünger fallen, welche nach Lucas Erzählung schon Jesus zur Predigt des Evangelii ausgesendet hatte. Wie dem aber auch ist, mögen die ersten Evangelisten Augenzeugen gewesen seyn oder nicht, wir beurtheilen sie nach unsern Bedürfnissen, wenn wir zu ihrer Bildung eine Diegese für nothwendig halten. Alle oben genannten Eigenthümlichkeiten der damaligen Zeit, welche den geringern Palästinenser den Gebrauch einer Schrift erschwerten, und ihn die viva vox vorziehen ließen, treten hier wieder ein. Der Evangelist mußte jene

    *) Origenes comm. in Evang. Ioannis. Tom. I. praef. - Cum accurate examinaverimus, quodnam sit Evangelistae officium, et invenerimus, pertinere ad eum, non (solum) semper enarrare, quonam pacto servator coecum a nativitate sanaverit, foetentem mortuum excitarit, vel aliquid supra hominum opinionem fecerit, non dubitamus affirmare aliquo modo evangelium esse, quae scripserint Apostoli, cum ad evangelistae munus attineat, adhortoria etiam oratione fidem eis, quae de Iesu tradita sunt, acquirere. cf. Euseb. III, 37.


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Erzählungen doch seinem Gedächtnisse einprägen, um sie bei seiner Predigt frei vortragen zu können: jenes mußte ihm aber leichter werden, wenn er sie mit Feuer und Leben oft von Andern vortragen hörte, als wenn er sie erst mit Mühe aus seiner Diegese entzifferte. Ueberdieß muß man ja diese Diegese, theils der Natur der Sache, theils der Hypothese wegen, für die sie erfunden ist, für einen so armen Entwurf machen (insofern sie nur die allen 3 Evangelisten gemeinschaftlichen Abschnitte aber  i n  w e i t  k ü r z e r e r  F o r m  enthielt); daß man auf der einen Seite so wenig sieht, wie es Schwierigkeiten machen konnte, ihren Inhalt sogleich auswendig zu lernen, und sie selbst alsdann zu entbehren, als man einsieht, was jene Evangelisten mit ihr anfangen, wie sie aus ihr das Evangelium predigen konnten.
    Jene Sagen bestätigen sich also dadurch, daß man einsieht,  d i e  A p o st e l,  d i e  n a ch  i h r e r  B i l d u n g  w o h l  n u r  d u r ch  N o t h w e n d i g k e i t  z u m  S ch r e i b e n  b e w o g e n  w e r d e n  k o n n t e n,  h a t t e n  a n f a n g s  k e i n e  s o l ch e  A u f f o r d e r u n g e n  d a z u,  d e n e n  s i e  n i ch t  d u r ch  m ü n d l i ch e  M i t t h e i l u n g  e b e n f a l l s  g e n u g t h u n  k o n n t e n.  Wenn sich nun aber noch in der Eigenthümlichkeit ihrer Lage und ihrer Denkungsart Seiten auffinden lassen,  d i e  d e m  G e b r a u ch e  e i n e r  D i e g e s e  a l s  H ü l f s =  u n d  B e g l a u b i g u n g s s ch r i f t  g e r a d e z u  w i d e r s p r e ch e n,  wenn sich  i n  i h r e n  S ch r i f t e n  a l l e s  n u r  m i t  d e r  A n n a h m e  v e r e i n i g e n  l ä ß t,  daß sie nur mündlich das Evangelium predigten; so muß man unbedingt jene Sagen als historisch erwiesen annehmen, und die Aufhel=


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lung des Phänomens, für welches das Urevangelium erfunden ist, von einer andern Seite her erwarten.
    Was zuerst die Lage und die Ansichten der Apostel betrifft, so erwäge man:
    1. daß sie aufs festeste davon überzeugt waren, daß der Paraclet, wie er sie überhaupt mit dem, was ihnen zum Lehramte nöthig wäre, versähe, so insbesondere in ihnen  d a s  A n d e n k e n  a n  d i e  B e g e b e n h e i t e n  d e s  L e b e n s  J e s u  n e u  u n d  r e i n  e r h i e l t e.  Beim Johannes verspricht Jesus seinen Jüngern, daß der heilige Geist sie an das, was er zu ihnen geredet hätte, von neuem erinnern werde *). Der Evangelist würde dieß unstreitig nicht bemerkt haben, wenn er nicht geglaubt hätte, daß nach der Erscheinung des Paracleten sich durch dessen Hülfe das Andenken an Jesu Leben wirklich bei den Jüngern verlebendigt hätte. Mit Hülfe des heiligen Geistes wurde also von den Jüngern (diakonoij pneumatoj) auch das historische Evangelium verkündigt **), und deshalb drückte man sich auch so aus, daß der heilige Geist  u n d  die Jünger (eigentlich der h. G.  d u r ch  die Jünger) zugleich das Evangelium bezeugten ***).
    Konnten aber die Jünger bei dieser Ueberzeugung wohl eine schriftliche Stütze des Gedächtnisses für ihre

    *) Ioh. 14, 26. upomnhsei umaj panta, a eipon umin.
    **) 1 Petr. 1, 12. euaggelisamenoi - en pneumati agiw (cf. Clem. ap. Eus. H. E. VI, 14. tou Petrou - pneumati to euaggelion eceipontoj). cf. Act. 1, 8.  2 Tim. 1, 14.
    ***) Ioan. 15. 26. 27. ekeinoj (o paraklhtoj) marturhsei peri emou. Kai umeij de martureite. - Act. 5, 32. kai hmeij esmen marturej - - kai to pneuma etc.


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Schüler für nöthig halten, denen sie den heiligen Geist - diesen erhabenen Beistand - mitgetheilt hatten? Oder hieß dieß nicht geradezu mißtrauisch seyn gegen die göttliche Kraft, die in ihnen wirkte?
    2. Die Juden erwarteten bei dem Eintritte des messianischen Zeitalters nichts weniger, als neue heilige Bücher; sie hofften im Gegentheile, daß das vorhandene Gesetz in noch höheres Ansehen kommen, und daß Gott selbst es eindrücklich in die Herzen der Menschen schreiben würde *). Jesus selbst hatte es ausdrücklich erklärt, daß er nicht gekommen sey, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu erfüllen, und daß dasselbe bis ans Ende der Welt fortdauern werde **). Eben so reden auch die Apostel in den Briefen. Die Herzen der Christen sind die heiligen Schriften Christi, bereitet von den Aposteln durch den heiligen Geist, der in die Herzen hineingesenkt ist ***) durch die Verkündigung des Evangelii +). Daher wird das Evangelium als pneuma dem geschriebenen Gesetze als gramma entgegengesetzt ++), daher sind die christlichen Lehrer diakonoi kainhj diaqhkhj, ou grammatoj, alla pneumatoj, ihr Amt eine diakonia tou pneumatoj, wie das Amt der alttestamentlichen Lehrer eine diakonia tou qanatou en grammasin +++).

    *) Es. 54, 13.  cf. Ioh. 6, 45.  -  Ier. 31, 33.  cf. Hebr. 8, 10.  10, 16.
    **) Matth. 5, 17. 18.
    ***) 2 Cor. 3, 3. cf. 1, 22.
    +) Gal. 3, 3. 5.
    ++) Röm. 7, 6. kainothj pneumatoj - palaiothj grammatoj.
    +++) 2 Cor. 3, 6. 7.


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    Aus diesen Stellen folgt zwar unmittelbar nur, daß die Apostel von heiligen Schriften der christlichen Gemeinde noch gar nichts wußten, und jene Diegese soll nach dem Willen ihrer Urheber  n i ch t  eine solche heilige Schrift seyn. Aber ich gebe es dem unbefangenen Gefühle zu erwägen, ob Paulus die evangelischen Lehrer mit solcher Parrhesie diakonoi  o u  g r a m m a t o j  nennen konnte, wenn er selbst, wie alle Evangelisten,  S c l a v e  einer Diegese war?
    3. Indeß waren ja die ersten evangelischen Lehrer durchaus nicht ohne alle schriftliche Norm, sie waren ja ganz eigentlich an das Alte Testament gewiesen worden. Jesus kündigte sich als den schon lange vorher im A. T. versprochenen Messias an, und legitimirte sich als solchen durch sein jenen Weissagungen genau entsprechendes Leben und Wirken. Bei vielen Begebenheiten seines Lebens deutet er ausdrücklich auf diesen Zusammenhang hin, in der letzten Rede an seine Jünger, worin er denselben ihren Zweck vor Augen legt, fordert er sie feierlich auf, seine Thaten in diesem Verhältnisse zu bezeugen *). Bedurften also dieselben einer Hülfsschrift, so hatten sie diese ja im A. T., denn schon die Propheten hatten hier ja beseelt von Christi Geiste dessen Leiden und Erhöhung, und alles das, was jetzt von den Evangelisten verkündet werden sollte, voraus gesagt **). Dieses Zusammentreffen der messianischen Weissagungen mit den Begebenheiten des Lebens Jesu war es, worauf die Apostel in ih=

    *) Luc. 24, 44-49.
    **) 1 Petr. 1, 11. 12. (profhtai) hmin dihkonoun auta a nun anhggellh umin dia twn euaggelisamenwn.


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ren Predigten den höchsten Werth legten.  Die heiligen Schriften zeugten überall von Jesu *), von ihnen gingen sie daher aus, in dem Leben Jesu zeugten sie - als Augenzeugen - ihre Erfüllung, und so bewiesen sie aus dem A. T., daß Jesus der Christ sey **), so predigten sie ihn aus dem Gesetze Mosis und den Propheten ***). Einzelne Beispiele, wie die Apostel überall das Alte Testament ihren Predigten zum Grunde legten, finden sich nicht selten in der Apostelgeschichte +). Wie sehr dieses das Bedürfniß einer schriftlichen Diegese verringere, wird noch deutlicher werden, wenn man Folgendes erwägt:
    Die Weissagungen der Propheten waren einem großen Theile nach ihnen selbst unverständlich gewesen, sie glichen einem schwachen Lichte an einem dunkeln Orte, welches diesen ganz zu erhellen nicht hinreichend war ++). Erst durch Jesu Menschwerdung und Leben erhielten dieselben ihre klare Bedeutung, und das Licht glänzte zur Sonne auf. Folglich war das A. T. großentheils für die frühern Generationen unverständlich, viele Stellen darin waren nur für die Christen geschrieben +++), und so konnten Lehren, die früher Geheimnisse gewesen waren,

    *) Ioh. 5, 39. ekeinai eisin ai marturousai peri emou. cf. Theodoret. ad Psalm. 67, 28. kai toutou marturej duo: o men profhthj, o de euaggelisthj, o men prolegwn, o de thn marturian proferwn.
    **) Act. 18, 28. epideiknuj dia twn grafwn,  einai ton Xriston Ihsoun.
    ***) Act. 28, 23. peiqwn te autouj ta peri tou Ihsou apo te tou nomou Mwusewj kai twn profhtwn.
    +) Act. 8, 30-35.  13, 15. ss.
    ++) 2 Petr. 1, 19. 20.  cf. 1 Petr 1, 10-12.
    +++) Rom. 4, 24.  15, 4.  1 Cor. 10, 11.


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d u r ch  d i e  S ch r i f t e n  d e r  P r o p h e t e n  zu Christi Zeit geoffenbaret werden *).
    Das Alte Testament war also in einem  a n d e r n  und  h ö h e r n  Sinne die heilige Schrift der Christen, als es solche bisher bei den Juden gewesen war. Die Christen fanden in demselben alle Lehren des Christenthums, wenn auch oft nur dunkel doch ihnen verständlich, angedeutet; der Unterricht Jesu enthielt nur Wiederholungen und weitere Entwickelungen (deuterwseij) **); konnten die Jünger diese nicht eben so gut ohne andere Hülfsschriften unmittelbar an die Aussprüche des A. T. anknüpfen, wie die Gelehrten ihres Volks die ihrigen? Oder ist es nicht vielmehr in der Natur der Sache gegründet, zu schließen, daß, wenn die Gelehrten mündliche Aufbewahrung für ihre deuterwseij für hinlänglich hielten, dieß den Jüngern noch  w e i t  e h e r  genüget haben werde?
    So wurde auch später den Proselyten aus dem Heidenthume das A. T. als heilige Schrift übergeben; ohne dasselbe hätte ja die ganze Messiasidee fallen müssen, und der Name "Christus" wäre ohne Sinn gewesen. - Freilich durfte man hier nicht mit der Voraussetzung, daß das A. T. eine göttliche Schrift sey, beginnen; allein noch die Schriften der christlichen Apologeten zeigen es, daß nichts tiefern Eindruck auf die Heiden machte, als die Vorstellung, daß so specielle Weissagungen uralter Männer in Jesu eingetroffen wären.

    *) Rom. 16, 25. 26.
    **) So findet Origenes (peri arxwn lib. III. 472. M.) in dem Deuteronomium ein Vorbild des Evangeliums als der secunda lex (deuterwsij).


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    Es bleibt nun noch übrig, in den Briefen der Apostel die Stellen zu vergleichen, die über die Art, wie das Evangelium gepredigt ist, Licht geben können, um von dieser Seite über die Existenz oder Nichtexistenz einer Diegese zu urtheilen. Prüfen wir in dieser Rücksicht die Briefe an die Gemeinden, so fällt es bald in die Augen, daß diesen nur durch mündliche Predigt das Evangelium bekannt geworden seyn kann. Paulus kann es sich gar nicht denken, daß Jemand an das Evangelium glauben könne, ohne einen Evangelisten gehört zu haben: der Glaube an dasselbe konnte nach seiner Meinung nur durch die mündliche Predigt erzeugt werden *). Daher heißt das Evangelium: logoj, khrugma, logoj akohj (1 Thess. 2, 13.  Hebr. 4, 2.); von der Verbreitung desselben werden die Ausdrücke: khrussein, lalein, paradidonai to euaggelion, euaggelizein gebraucht, wie von der Annahme desselben die Worte: akouein, akroasqai, dexesqai und paralambanein - lauter Ausdrücke, die theils  n u r,  theils  a m  b e q u e m st e n  von mündlicher Ueberlieferung gefaßt werden können. Paulus selbst lehrt uns eine doppelte Art der Belehrung, die den Gemeinden zu Theil wurde, kennen **), die erste durch die mündliche Ankündigung des Evangelii (dia logou), die zweite durch Briefe (di ) epistolhj), die aber nur den Zweck hatte, die Gemeinden in dem angenommenen Evangelio zu befestigen und zu stärken, nicht das Evangelium zu verkündigen.

    *) Rom. 10, 14. pwj de pisteuousin ou ouk hkousan; pwj de akouousi xwrij khrussontoj; cf. v. 17. ara h pistij ec akohj. Daher Gal. 3, 2 und 5. h ec akohj pistij.
    **) 2 Thess. 2, 2. 15.  2 Cor. 10, 10. 11.


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Die Verkündigung dia logou durch den Gebrauch einer Syngraphe überflüssig zu machen, fiel ihm nicht ein; nach den oben angeführten Stellen war dieß jenem Zeitalter so heterogen, daß Paulus es sich nicht zu denken vermag.
    Indeß dürfen wir ja in den Briefen an Gemeinden nicht Spuren einer Diegese suchen, die blos für Evangelisten bestimmt war. Zum Glück haben wir in unserm Canon noch Briefe Pauli an zwei seiner vertrautern Schüler, die darin über die Führung ihres Lehramts, wozu auch das Geschäft eines Evangelisten gehörte *), unterwiesen werden sollen **). Findet sich  h i e r  keine Spur von jener Diegese, so muß diese nothwendig verdächtig werden; werden aber überdieß hier ganz andere Quellen genannt, aus denen die Schüler die Kenntniß des Evangeliums haben sollen, so ist dieß doch wohl ein schwer zu entkräftender Beweis gegen die Existenz einer solchen Schrift. Und nirgends erklärt sich gerade Paulus so deutlich, als in diesen Briefen, daß er bei seinen Schülern nur einen mündlichen Unterricht im Evangelio voraussetze. Die deutlichste Stelle darüber ist 2 Tim. 3, 14. 15. durch den Gegensatz, worin die iera grammata (das A. T.) mit dem, a emaqe kai epistwqh o Timoqeoj para Paulou (die evangelische Deuterosis) stehen. Unter dem letzteren, was Timotheus von Paulus mündlich empfangen hatte, ist alles das begriffen, was dem Christen außer dem A. T. noch zu wissen nöthig war - die in dem historischen

    *) 2 Tim. 4, 5. ergon poihson euaggelistou.
    **) 1 Tim. 3, 15.


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Evangelio gegebene heilsame Lehre Jesu *). Daß dieser Unterricht  m ü n d l i ch  gewesen war, ist zwar schon aus dieser Stelle selbst deutlich, wird aber in andern Stellen noch deutlicher ausgedrückt durch die Umschreibung: "was du von mir gehört hast **)." Man würde aber der urchristlichen Ansicht Gewalt anthun, wenn man hier das historische Evangelium von der Lehre Jesu trennen, und die letzte allein in jener Stelle finden wollte. Beides war zu eng mit einander verbunden, es stützte sich eines zu genau auf das andere, als daß man eine solche Sonderung vornehmen dürfte. Die  g a n z e  christliche Deuterosis machte den köstlichen Schatz aus, den Paulus in das Herz des Timotheus niedergelegt hatte ***), und den zu bewahren er ihn oft ermahnet +), zu welchem Ende er ihn auch erinnert, einen Ueberblick über die empfangene heilsame Lehre sich zu erhalten ++).
    Eine andere, besonders über die Art der Fortpflanzung des Evangelii, Licht verbreitende Stelle ist 2 Tim. 2, 1. 2.
    Su oun, teknon mou, endunamou en th xariti th en Xristw Ihsou: kai a hkousaj par ) emou dia pollwn marturwn, tauta paraqou pistoij anqrwpoij, oitinej ikanoi esontai kai eterouj didacai.

    *) h ugiainoush didaskalia (1 Tim. 1, 10.  2 Tim. 4, 3. den muqoij entgegengesetzt. Tit. 1, 9.  2, 1.) = logoi ugiainontej (1 Tim. 6, 3.  2 Tim. 1, 13.).
    **) a par ) emou hkousaj. 2 Tim. 1, 13.  2, 2.
    ***) vergl. oben.
    +) thn kalhn paraqhkhn fulacon. 1 Tim. 6, 20. 2 Tim. 1, 14.
    ++) 2 Tim. 1, 13. upotuppsin [sic] exe twn ugiainontwn logwn.


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    Die Stelle beginnt mit einer Ermunterung zur Thätigkeit in den übernommenen Amtspflichten, das verbindende kai läßt im Folgenden eine Erklärung von dem erwarten, worin Paulus gerade vorzüglichen Eifer angewandt wissen will. Wenn wir das schwierige dia pollwn marturwn einstweilen übersehen, so geben die andern Worte deutlich den passenden Sinn: "das, was du von mir empfangen hast, das vertraue erprobten Männern wieder an." Was dieses sey, darüber läßt uns die Parallelstelle 2 Tim. 1, 13., wo ugiainontej logoi vorhergehet, nicht lange im Zweifel: es ist eben die heilsame Lehre, welche Timotheus vom Paulus empfangen hatte. Auf diese para qhkh winkt auch das in jener Stelle gebrauchte paraqou *). - Diese natürliche Erklärung ist indeß wegen des in den Vordersatz verwebten dia pollwn marturwn häufig verändert. Man erklärt diese Worte gewöhnlich durch: coram multis testibus, und bezieht nun das Ganze auf die Feierlichkeit der Händeauflegung oder der Amtsweihe, wie 1 Tim. 6, 12.  Diese Stellen können aber schwerlich mit einander verglichen werden, denn in der letzten redet der Apostel offenbar nicht eigentlich zum Timotheus, sondern zu den Christen, die in Gefahr sind, verführt zu werden, und ermahnt sie, ihres öffentlichen Christengelübdes eingedenk zu seyn. In unserer redet er Timotheus namentlich an, und giebt ihm eine Aweisung [sic], wie er christliche Lehrer vorbereiten

    *) So auch Theodoret ad h. l. touj th pistei kekosmhmenouj tauta didacon, a memaqhkaj, ina kakeinoi palin proj eterouj thn didaskalian diaporqmeuswsi.


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soll. Nach der gewöhnlichen Erklärung müssen a hkousaj par' hmwn die Worte seyn, welche Paulus bei der Ordination gebrauchte. Sollte Paulus das Wichtigere - nämlich den vorbereitenden Unterricht vergessen haben über dieser Ordinationsformel? Bedurfte es ferner bei der Ermahnung, diese zu gebrauchen, einer Einleitung, wie diese ist: "Zeige dich muthig, thätig durch den gnädigen Beistand Christi?" Welche Bedeutung giebt man endlich dieser Erklärung wegen der Präposition dia, die hier mit enwpion gleichbedeutend seyn soll?
    Am passendsten wäre hier wohl die Ellipse eines von den naheliegenden Participien marturoumena, bebaioumena anzunehmen, so daß die Stelle mit synonymen Ausdrücken aus Hebr. 2, 3. so umschrieben würde:
    a hkousaj par' emou upo twn akousantwn eij hmaj bebaioumena.
    So nimmt auch Clemens in einem Fragmente seiner Hypotyposen die Bedeutung von dia. Er denkt zwar bei den marturej an das Gesetz und die Propheten, welche der Apostel Zeugen seiner Predigt zu nennen pflegte *); die grammatische Erklärung bleibt indeß unverändert, wenn wir die marturej in den Aposteln suchen, auf deren persönliche Zeugnisse die Glaubwürdigkeit des Evangelii beruhete. Uebersetzt würde also jene Stelle lauten:
    "Was du von mir durch viele Zeugen bezeugt ge=

    *) Clem. Hypotyp. l. VII. (ap. Oecumen. in h. l. - in Potters Ausgabe des Clem. Th. 2. S. 1015) dia pollwn marturwn toutesti nomou kai profhtwn. toutouj gar Apostoloj epoieito marturaj tou idiou khrugmatoj.


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hört hast, das vertraue sichern Männern an, welche tüchtig sind, es Andern zu verkünden?"
    Verbindet man diese Stelle mit einigen andern sich dahin beziehenden, so werfen diese ein helleres Licht auf die Art der Fortpflanzung des Evangelii in den ersten Zeiten des Christenthums.
    Auf den Aposteln als Augenzeugen ruhte die Gewißheit des Evangelii und die Kraft des Zeugnisses. Ihre Predigt war nach dem durchgängigen Sprachgebrauche des N. T. *) ein Zeugniß, das durch ihre Persönlichkeit erst seine Kraft erhielt. Darum legten sie stets ein so hohes Gewicht darauf, daß sie Augenzeugen gewesen waren **); daher war es zu einem Apostel ein so unentbehrliches Erforderniß, daß er Jesum selbst gesehen und gehört hatte, daß bei der Wahl eines neuen Apostels dieß als etwas, was sich von selbst verstand, berührt wurde ***), und daß Paulus sich auf seine Autopsie beruft, um seine apostolische Würde zu erweisen +). Die Uebereinstimmung dieses Zeugnisses mit den Weissagungen des Alten Testaments war der Ueberzeugungsgrund des Christenthums, und so wurde es erbaut auf den Grund der Propheten und Apostel ++).

    *) marturein. martureisqai. diamartureisqai ton Xriston oder to Euaggelion. marturia. martur. [sic]
    **) toutou hmeij esmin [sic] marturej.  Act. 2, 32.  3, 15.  10, 39.  cf. 1 Ioh. 1, 1-3.  2 Petr. 1, 16-18.  Apoc. 1, 2.
    ***) Act. 1, 21. 22.
    +) 1 Cor. 9, 1. ouk eimi apostoloj; ouxi Ihsoun Xriston ton kurion hmwn ewraka;
    ++) Eph. 2, 20. epoikodomhqentej epi tw qemeliw twn ap. kai prof.


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    Wie der Glaube der Schüler der Apostel sich auf die persönliche Autorität des Lehrers stützte, wird besonders da deutlich, wo Paulus den Timotheus auf seine Persönlichkeit, sein apostolisches Ansehen weiset, um ihn zur Beharrlichkeit in der empfangenen Lehre zu ermuntern *). Aber auch auf die Schüler, die von den Aposteln dazu tüchtig gemacht waren, erbte die Kraft des Zeugnisses fort; auch Timotheus, obgleich nicht Augenzeuge, obgleich selbst auf den Grund der Apostel erbaut, konnte wieder den Herrn bezeugen **), und, wie die vorhin behandelte Stelle darthut, wieder Andere durch Mittheilung des empfangenen Unterrichts tüchtig machen, das Evangelium zu bezeugen. So konnte ein späterer Christ sagen, daß das Evangelium durch das Zeugniß der Augenzeugen gesichert auf ihn und seine Zeit gekommen sey ***), ohne daß er etwa an eine verbürgende Syngraphe dachte.
    Noch eine Frage dringt sich bei jener Stelle auf: Nur erprobten Männern, die fähig wären, auch Andere zu lehren, sollte Timotheus das anvertrauen, was er vom Paulus gehört hätte; war denn dieses etwas Geheimes, was den Laien verborgen wurde? Man braucht nur Pauli Briefe flüchtig gelesen zu haben, um sich zu überzeugen, daß es dessen höchster Wunsch war, daß alle Christen die genaueste Kenntniß des Evangelii hätten. An einen geheimen Unterricht der Lehrer ist also hier nicht

    *) 2 Tim. 3, 14. eidwj para tinoj emaqej.
    **) 2 Tim. 1, 8. mh epaisxunqhj to marturion tou kuriou hmwn.
    ***) Hebr. 2, 3. upo twn akousantwn eij hmaj ebebaiwqh.


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zu denken; aber wohl bedurften diese einer besondern Unterweisung, um die genaueste Kunde von dem Evangelio, was sie verkünden sollten, zu erlangen. Konnten die Laien sich mit der Kenntniß der practischen Resultate desselben begnügen, so mußten doch die Lehrer genauer das historische Evangelium kennen, und diese upotupwsij logwn ugiainontwn ist es wohl, die der künftige Lehrer sich in einem besondern Unterrichte einprägen mußte.
    Wollen wir also historischen Spuren folgen, so finden wir die spätern Sagen von dem Mangel aller Schriften in dem frühesten apostolischen Zeitalter aufs vollkommenste bestätigt, nicht nur durch die Erwägung der Lage und der Ansichten der Apostel, sondern auch durch die Prüfung ihrer spätern Briefe. Und da wir in den Briefen Pauli an seine Schüler, die doch jene Diegese besitzen mußten, deutlich mündliche Ueberlieferung als Quelle ihrer Kenntniß vom Evangelio genannt finden, so schließen wir daraus mit Recht auf die Nichtexistenz einer solchen Diegese, und suchen das Problem der Evangelienharmonie aus andern Ursachen zu erklären.

[Top]

§. 6.

E s  b i l d e t e n  s i ch  u n t e r  d e n  A p o st e l n  s e h r  f r ü h  g l e i ch e  E r z ä h l u n g s f o r m e n  d e s  E v a n g e l i i.

     Da nach dem Vorherigen die frühern Hypothesen, sowohl die, welche eine Benutzung der Evangelisten unter sich, als die, welche den gemeinschaftlichen Gebrauch früherer schriftlicher Quellen annehmen, theils in Rücksicht auf die Erklärung des Problems nicht befriedigen, theils


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von der Geschichte zurückgewiesen werden; so bleibt nur noch eine Annahme zurück, nämlich die, daß die Evangelisten eine gleiche mündliche Quelle benutzten: und wir dürfen behaupten, daß, wenn die übrigen Fälle nicht angenommen werden können, schon deswegen dieser allein übrig bleibende Ausweg uns für wahr gelten muß. Für den Urheber der Hypothese von einem mündlichen Urevangelio, als Quelle der Evangelienharmonie, wird oft H e r d e r gehalten; er ist es indeß mehr, insofern seine Untersuchungen Gedanken anregten, die Andere zu jenem Resultate führten, als weil er selbst ein solches in strengen Sinne des Worts angenommen hätte. Er hebt es nämlich in seinen Schriften über diesen Gegenstand *) besonders stark hervor, daß die Apostel keineswegs mit neuen heiligen Schriften hervortreten wollten, und daß das Evangelium seiner Natur nach mündliche Botschaft war, die sich an das A. T. genau anschloß. Weil er dennoch zur Erklärung der Evangelienharmonie einer schriftlichen Grundlage nöthig zu haben glaubt, so läßt er zum Behufe jener mündlichen Ankündigung des Evangelii früh einen schriftlichen aber nicht edirten Entwurf verfaßt werden, nennt aber diesen seines Zwecks wegen immer noch ein mündliches Evangelium.
     Der Erste, welcher aus einem e i g e n t l i ch e n mündlichen Evangelio die Entstehung der Evangelien herleitete, war E ck e r m a n n. Seine frühern Untersuchungen über

*) J. G. H e r d e r Regel der Zusammenstimmung unserer Evangelien. 1797. (Werke. Th. 12.). Vergl. Bertholds Einleit. Th. 3. S. 1232.


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diesen Gegenstand *) hatten ihn zu dem Resultate geführt, daß in den frühesten Zeiten des Christenthums das Evangelium nur mündlich fortgepflanzt sey, und er glaubte daher die Abfassung unserer Evangelien erst in die Zeiten Trajans setzen zu müssen. Indeß nahm er hier einen kleinen Aufsatz vom Leben Jesu als die gemeinschaftliche Grundlage der 3 ersten Evangelien an, aus welchem durch Vervollständigungen aus andern Nachrichten kata Matq., kata Mark., kata Loukan unsere drei ersten Evangelien erwachsen seyen. In einer spätern Schrift **) erklärte er sich aber, obgleich nur kurz, doch bestimmt, für das Entstehen der Evangelien aus einer gleichförmigen Tradition, läßt diese aber erst durch die Herausgabe des aramäischen Evangelii des Matthäus fixirt werden. Seine eigenen Worte sind: "die Uebereinstimmung der Evangelien läßt sich sehr wohl erklären, wenn man auch annimmt, daß alle drei Evangelisten ganz von einander unabhängig ihre Evangelien geschrieben haben. Matthäus hatte ja, nach dem Zeugnisse des Alterthums, zuerst für Palästina ein hebräisches Evangelium aufgesetzt. Dieß Evangelium ward natürlich der Prototypus, oder das Urbild aller mündlichen Nachrichten von Jesus Geschichte und Lehre, die in Palästina von christlichen Evangelisten und Lehrern, und hernach auch von Christen, die von

    *) J. Chr. R. E ck e r m a n n theologische Beiträge. Bd. 5. St. 2. Altona, 1796. S. bes. S. 155. 209. ff. Dagegen: (Munschers) Bemerkungen und Stäudlins Beiträgen zur Philos. und Geschichte d. Relig. u. Sittenlehre. Bd. 5. S. 152.
    **) J. Chr. R. E ck e r m a n n 's Erklärung aller dunkeln Stellen des Neuen Testaments, Th. 1. (Kiel, 1806.) Vorrede, S. XI. XII.


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solchen Evangelisten und Lehrern die Erzählung gehört hatten, weiter verbreitet wurden. Ist es denn befremdend, daß Marcus und Lucas, die ihre evangelischen Nachrichten in Jerusalem gesammelt hatten, von den Augenzeugen, bei welchen sie sich erkundigten, oder von den Lehrern, deren Vorträge sie gehört hatten, solche Nachrichten erhielten, die in Materie und Form mit Matthäus Evangelium eine auffallende Aehnlichkeit haben?"
     Neuerlich wurde diese Hypothese, wenn auch in etwas verschiedener Gestalt, von zwei Gelehrten wieder vorgetragen. K a i s e r *), davon ausgehend, daß ein schriftliches Urevangelium nicht bewiesen werden kann, behauptet, daß im Anfange nur mündliche Sagen existirten, die sich von Lehrern zu Lehrern fast wörtlich übereinstimmend fortpflanzten, weil die Traditionen fast als wörtlich memorirter Unterricht in das Gedächtniß gefaßt worden seyen. Erst nach weiterer Ausbreitung des Christentums seyen für entferntere Gemeinden schriftliche Evangelien nöthig geworden, so seyen auch unsere 4 canon. Evangelien ganz von einander unabhängig verfaßt, und ihre Harmonie erkläre sich aus der früheren Uebereinstimmung der Sage.
     Der R e c e n s e n t von D. F. Schütz diss. de evangeliis, quae ante evangelia canonica in usu eccl. christ. fuisse dicuntur in der Hall. Allgem. Lit. Zei=

    *) Dr. G. P. Chr. K a i s e r biblische Theologie. Th. 1. (1813.) S. 224.


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tung *) schlägt ebenfalls diesen Weg zur Erklärung der Evangelienharmonie ein, verbindet damit aber die von P a u l u s vorgetragene Hypothese.
    Die mündlichen Erzähler der Geschichte Jesu, die Evangelisten, vereinigten sich nach dieser Vorstellung noch zu Jerusalem, wahrscheinlich noch vor der ersten Zerstreuung, über einen gemeinschaftlichen Leitfaden ihrer Diegese, welcher theils aus Erzählungen der Augenzeugen, theils aus fragmentarischen, schon vorhandenen Aufzeichnungen (Notizen etlicher auf einander folgenden Tage) zusammengeordnet wurde. Dieser Leitfaden wurde die Grundlage unserer drei Evangelien, der frühesten, welche überhaupt geschrieben sind. Aus Erzählungen entstanden die kürzern unbestimmtern Andeutungen, aus frühern Aufzeichnungen die genaueren Notizen etlicher auf einander folgenden Tage. Daher stimmen Matthäus und Lucas gerade so überein und gehen gerade so von einander ab, wie es sich begreifen läßt, wenn beide dieselbe m ü n d l i ch e Quelle gebrauchten, welche zwar das Wesentliche in der Gedankenfolge, den Hauptausdruck fesselte, doch aber in der sonstigen Einkleidung und in Hinzufügung einzelner Anecdoten Freiheit zuließ. Ob Marcus ebenfalls unabhängig schrieb, oder nach Paulus aus Matthäus und Lucas schöpfte, darüber erklärt sich diese Hypothese nicht bestimmt; sie scheint sich indeß zu der letztern Meinung zu neigen, wenn sie sagt, daß Marcus sich dem Matthäus und Lucas als Vereiniger von beiden angereiht habe.

    *) Jahrg. 1813. May. St. 105. 106. S. 11-14.


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    Was F r i tz s ch e *) gegen diese Hypothese des Recensenten erinnert hat, ist gegen einzelne Gründe, womit dieser sie gestützt hat, zum Theil treffend; gegen die Hypothese selbst wird aber eigentlich nur ihre Unwahrscheinlichkeit erinnert, über welche bald die Rede seyn wird **).
    Zur Vertheidigung der Hypothese von einem mündlichen Urevangelio muß vor allem erwiesen werden, daß sie zur Erklärung der Evangelienharmonie ausreiche, dann daß sie historisch wahrscheinlich sey und sogar durch historische Spuren bestätigt werde.
    Sie erklärt zuerst vollständiger als die übrigen Hypothesen jenes Phänomen, denn:
    1. Daß alle drei Evangelisten eigenthümliche, daß sie aber auch je zwei und zwei, und daß endlich alle drei Evangelisten gemeinsame Abschnitte haben, erklärt sich, wenn man, wie es in der Folge wahrscheinlich gemacht werden wird, annimmt, daß jene mündliche Norm nicht eine wie auf einem Concilio bestimmte Fessel war, sondern unter den Aposteln bei der öftern Wiederholung

    *) C h r i st. F r i e d r. F r i tz s ch e Prüfung der Gründe, mit welchen neuerlich die Aechtheit der Bücher Mosis bestritten worden ist. Nebst einem Anhange über das Urevangelium. Leipzig, 1814. S. 157-171.
    **) Nur aus der Anzeige in der Hall. A. L. Z. (März, 1817. St. 25. S. 195) kenne ich den Aufsatz des Amtspropstes H e r tz zu Roeskilde: „Ueber die Gleichheiten in den 3 ersten canon. Evangel., besonders mit Rücksicht auf die Hypothese von einem Grundevangelio" (in den „Videnskabelige Forhandliger" der Seeländischen Landemode. Bd. 1. S. 32-59. 1811.). In jener Anzeige heißt es: „Mit Herder nimmt der Verfasser übrigens eine Art von Grundevangelium an, nämlich ein mündliches, und dieses wird niemand streitig machen."


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derselben Erzählung mehr wie von selbst entstand. Bei den nachher unabhängig von einander schreibenden Evangelisten mußte daher eine verschiedene Auswahl des vorhandenen Reichthums entstehen, die sich theils nach der Individualität eines Jeden, theils nach der Verschiedenheit derjenigen bestimmte, für welche die Syngraphen verfertigt wurden. Wenn sich bei einzelnen Erzählungen, die Einem Evangelisten eigentümlich sind, in seinen Verhältnissen Veranlassungen dafür auffinden lassen, daß er gerade dieselben mittheilte, so sind dieß historische Spuren, welche die Hypothese bestätigen.
    2. Die gleiche Anordnung der Erzählungen macht wohl die wenigsten Schwierigkeiten. Denn wenn die Begebenheiten des Lebens Jesu den Evangelisten von der höchsten Wichtigkeit scheinen mußten, so konnte ihnen die Kenntniß der Reihenfolge derselben nicht gleichgültig seyn. Die wenigen Abweichungen der Evangelisten von einander in dieser Hinsicht erklären sich wieder aus der Freiheit, die ein mündlicher Erzählungstypus ihnen lassen mußte.
    3. Daß die Sprache aller drei Evangelisten, selbst die des Lucas, der doch sonst wohl der reinen griechischen Sprache mächtig war, ein hebraizierendes Griechisch ist, erklärt sich am treffendsten aus dieser Annahme einer durch den steten Gebrauch einmal sanctionirten mündlichen Quelle, weil es sonst unbegreiflich bleibt, warum Lucas, der für Griechen schrieb, nicht die vorhandenen Nachrichten von Jesu in einer die Griechen mehr ansprechenden Sprache verarbeitete. Es leuchtet ferner von selbst ein, daß, wenn ein solcher mündlicher Typus Grundlage unserer Evangelien war, ein solches gleiches


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Zusammentreffen im Ausdrucke, gemischt mit Abweichungen in oft unbedeutenden Synonymen und mit Eigenthümlichkeiten in Hinzufügung einzelner Umstände und in Umstellung oder veränderter Darstellung derselben Gedanken entstehen mußte, wie wir es in unsern Evangelien finden. Insofern sich die Gründe, weshalb Matthäus und Marcus einander verwandter im Ausdrucke sind, als Lucas mit ihnen, in Verfolgung dieser Hypothese auffinden lassen, so erhält dieselbe dadurch einen neuen Beweis für ihre Wahrheit.
    4. Selbst der Umstand, daß die Evangelisten gewisse Stellen des A. T. unter sich übereinstimmend, aber von dem hebr. Texte und der LXX. abweichend citiren, läßt sich aus der Annahme eines mündlichen Typus wohl erklären. Findet sich doch auch bei Citaten in den Briefen verschiedener Apostel ein gleiches Verhältniß unter sich und zu den Quellen (z. B. 1Petr. 2,6.8. Röm. 9,33.), ohne daß man deshalb den gemeinschaftlichen Gebrauch einer besondern Version voraussetzen dürfte. Waren die messianischen Stellen nothwendige Theile des mündlichen Evangelii, und mit diesem enge verbunden; so erhielten sie ebenfalls ihre eigenthümliche Stellung und Form in demselbem, und bewahrten diese bei den einzelnen Jüngern mehr oder weniger, je mehr oder weniger oft ihrer Wichtigkeit gemäß sie vorgetragen wurden.
    5. Vorzüglich aber nützt diese Hypothese zur Erklärung des Verhältnisses der Evangelien, wenn man dasselbe aus den beiden Hauptgesichtspuncten betrachtet, die oben bei der Characterisirung desselben ausgehoben sind. Daß die Evangelienharmonie erst mit den Erzählungen


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von Johannes dem Täufer beginnt, hat seinen Grund darin, daß die messianischen Beurkundungen des Lebens Jesu erst hiermit begannen, und die Predigt der Apostel sich nicht höher hinauf erstreckte *). Durch nichts läßt es sich so bequem als durch die Annahme einer gemeinschaftlichen mündlichen Quelle erklären, wie es gekommen ist, daß die Erzählungen, je wichtiger sie den Schülern scheinen mußten, desto übereinstimmender vorgetragen werden. Natürlich wurden diese am häufigsten vorgetragen, und ihre ursprüngliche Form erhielt sich also durch die öftere Wiederholung reiner, als die der übrigen Erzählungen, von denen mehr die Materie als die Form in dem Gedächtnisse der Einzelnen bewahrt wurde. Daß aber auch in diesen mehr oder weniger die a u f f a l l e n d e n Ausdrücke gleich sind, während vor und nach denselben in Synonymen variirt wird, mußte auch die natürliche Folge eines mündlichen Typus seyn; insofern gerade jene auffallenden Ausdrücke sich am festesten dem Gedächtnisse einprägen mußten, und am wenigsten mit andern verwechselt werden konnten. Selbst der Umstand, daß gewisse Schwierigkeiten in den Evangelien sich dadurch heben lassen, daß man den Text wieder ins Hebräische zurück übersetzt, ist mit der Annahme eines mündlichen Typus eben so gut vereinbar, wie mit der Annahme einer von den Evangelisten übersetzten hebräischen Schrift. Da die Schriftsteller meist hebräische Juden waren, da das mündliche Evangelium sich zuerst hebräisch constituirte, so konnte es nicht anders seyn, als daß sie

    *) Act. 1,21.22. 10,37.


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auch in der Folge sich ihre griechischen Ausdrücke mit den hebräischen des ersten Evangelii zusammen d a c h t e n, und daß jene daher oft durch Zurückführung auf diesen erläutert werden müssen.
     Wenn also durch einen blos mündlichen Evangelientypus als Grundlage der Evangelien, deren Verhältnis zu einander erklärt werden kann, wenn von Schriften in dem ersten apostol. Zeitalter sich keine Spur nachweisen läßt; so scheint, daß man der Consequenz halber nicht ein Gemisch von mündlichen und schriftlichen Nachrichten zur Quelle der Evangelien machen darf, sondern bei einer blos mündlichen Quelle stehen bleiben muß. Zwar k ö n n e n allerdings einzelne Evangelisten die empfangene Evangelientradition ganz oder zum Theil zur desto sicherern Stütze ihres Gedächtnisses schon früh aufgeschrieben haben, dieß kann eben so wenig historisch widerlegt als erwiesen werden. Aber eine solche Schrift blieb, selbst wenn sie einigen Freunden mitgetheilt wurde, doch nur Privatschrift, die mit der allgemeinen Tradition im Ganzen identisch war - eine paradosij eggrafoj zu Privatzwecken. Daß unsere Evangelisten gemeinschaftlich E i n e solche Syngraphe zum Grunde legten, kann aus früher erörterten Gründen nicht zugegeben werden; Einer oder der Andere k a n n allerdings ältere Schriften benutzt haben, da diese aber aus der allgemeinen Tradition geschöpft waren und mit dieser übereinstimmten, so schöpfte er doch im Grunde durch jenes Medium nur aus dieser. Da wir nun weder durch das Verhältniß der Evangelien zu einander, noch durch historische Gründe auf solche ältere Schriften, die Einzelne unserer Evangelisten benutz=


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ten, geführt werden, so müssen wir zwar die Möglichkeit derselben zugeben, dürfen sie aber bei der Erklärung der Evangelienharmonie nicht als n o t h w e n d i g voraussetzen.
     Der Erweis der historischen Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese wird am besten dadurch geführt, daß wir dieselbe durch die verschiedenen Zeiten hindurchführten, und sie mit den davon vorhandenen historischen Nachrichten zusammenstellten. Findet sie auf diesem Wege keinen Anstoß, gesellen sich ihr aber mehrere unterstützende historische Spuren bei, so ist dieß unstreitig ein Vorzug, den sie vor andern Hypothesen voraus hat.

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§. 7.

U e b e r  d i e  A r t,  w i e  s i ch  u n t e r  d e n  A p o st e l n  e i n  g l e i ch f ö r m i g e s  m ü n d l i ch e s  E v a n g e l i u m  a u s b i l d e t e.

    Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal der hier vorgetragenen Hypothese von den frühern, die ebenfalls ein mündliches Urevangelium annehmen, ist das, daß sie in keiner eigentlichen Abrede und in keiner Normalschrift den Ursprung desselben sucht; und es scheint, daß sie dadurch in historischer Rücksicht gewinne. Denn auf jeden Fall mußte die förmliche Constituirung einer Norm für die mündliche Predigt des Evangelii im apostolischen Zeitalter eine zu bedeutende Wichtigkeit haben, als daß der Mangel an allen Winken darüber für unentscheidend gehalten werden dürfte. Dann paßt aber auch eine künstliche Verabredung und ein ängstliches Memoriren von Erzählungsformen für begeisterte Augenzeugen zu wenig,


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als daß sich nicht auch von dieser Seite Schwierigkeiten gegen jene Meinung erheben sollten.
    Wenn wir dagegen jene Erzählungsformen in dem Apostelkreise zu Jerusalem auf eine ungezwungene Weise und mehr wie von selbst sich ausbilden lassen, so leuchtet es zuerst bald ein, daß  d i e  B i l d u n g  d e r  A p o st e l  eine solche Vereinigung in ihren Erzählungsformen sehr begünstigte.
    Denn 1) wenn die Gleichheit der Auffassung irgend einer Begebenheit von der gleichen Stärke der Sinnenwerkzeuge, der gleichen Bildung des Geistes, dem gleichen Standpuncte und der gleichen Aufmerksamkeit der verschiedenen Beobachter abhängt; so läßt sich behaupten, daß die Thaten Jesu von den Aposteln auf eine ungefähr gleiche Art aufgefaßt werden mußten. Wie überhaupt in einem ungebildeten Volke die Bildung der Einzelnen sich gleicher ist, so war wohl auch der Grad der Bildung bei den Aposteln (denn Paulus gehört nicht hierher) so ziemlich derselbe. Sie waren sämmtlich Palästinenser aus der niedrigern Volksklasse, aber alle, dieß müssen wir von der Wahl eines Menschenkenners, wie Jesus es war, erwarten, voll trefflicher Anlage, beseelt von einem gleichen Enthusiasmus für ihren Lehrer, von gleicher Aufmerksamkeit auf seine Worte und Thaten, deren nächste Zeugen sie stets waren.
    2) Wie die Auffassung der Begebenheiten bei den Aposteln sich ähnlich war, so mußte es auch die Darstellung derselben werden. Man hat mit Recht behauptet, daß jeder Gedanke selbst in den reichsten Sprachen nur einen ihm ganz entsprechenden Ausdruck habe, und


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daß jede Veränderung von diesem jenen, wenn auch noch so fein, nuancire. In den ärmern Sprachen ist seine Nuancirung natürlich schwieriger, und jede Veränderung des Ausdrucks bringt in ihnen schon stärkere Veränderungen des Gedankens hervor. Eine arme Sprache läßt daher um so vielmehr nur Einen ganz entsprechenden Ausdruck für jeden Gedanken zu.
    Die Muttersprache der Apostel war die Syrochaldäische, wohl wenig reicher als die von ihr verdrängte hebräische Sprache. Selbst die reiche griechische Sprache, die seit Alexander allmählig diesem Volke bekannt wurde, trug zur Bereicherung des Ausdrucks wenig bei. Man borgte von ihr nur einen kleinen Theil ihres Reichthums, um ihn zum Ausdruck hebräischer Gedanken umzuformen, und so wurde diese reiche Sprache auf diesem Boden wieder zu einer eben so großen Armuth zurückgebracht, als ihr je eigen gewesen seyn mag.
    3) Endlich ist die Einfachheit des apostolischen Zeitalters zu erwägen, die ein  S t r e b e n  nach Abwechslung des Ausdrucks nicht zuließ. Uns begegnet es häufig, daß wir, ohne es zu wissen, im Ausdrucke abzuwechseln suchen, theils weil unsere reichere Sprache uns dazu eher in den Stand setzt, theils weil unsere verwöhnteren Ohren durch Eintönigkeit ermüdet werden.
    Daß aus einer solchen Gleichheit der Bildung, der Armuth der Sprache und der Simplicität des Characters eine gleichartige Darstellung derselben Sachen hervorging, das läßt sich in den apostolischen Schriften wie in den ältern griechischen und hebräischen Producten nachweisen.


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    Wie beim Homer und im A. T. überbringt auch hier der Bote seinen Auftrag in derselben Form, worin er ihn erhalten hat *), ohne eigenmächtig daran zu ändern. Die Apostel sagten stets dasselbe mit denselben Worten, und selbst Paulus, der Gebildeteste unter allen, ist dieser Simplicität treu, wie dieß insbesondere aus der langen Reihe der wörtlich übereinstimmenden Stellen in den Briefen an die Epheser und an die Colosser erhellt **). Eben so auffallende Aehnlichkeiten finden sich in den Briefen 2 Petri und Judä, wie sich auch viele Ausdrücke und Ideen der Briefe des Petrus ***) und Jacobus +) in den Paulinischen wiederfinden. Vorzüglich wichtig ist aber hier die gleichförmige Wiederholuug [sic] einiger Erzählungen in der Apostelgeschichte, die Verschiedenen in den Mund gelegt werden, auch durch ihre Abweichungen beweisen, daß nicht Eine von der Andern abgeschrieben sey, und die deshalb für vollkommene Parallelen der Evangelienharmonie gelten können. Hierhin gehören:
    1) Pauli Bekehrung zuerst von Lucas erzählt (Act. 9,2-8.); dann vom Paulus in der Rede, welche er von der Burg Antonia herab an das Volk hält (Act. 22,5-11.); endlich in der Rede an den König Agrippa wiederholt (Act. 26,12-18.).
    Die ersten beiden Erzählungen harmoniren meistens

    *) Luc. 7,19. cf. 20. 19,31. cf. 34.
    **) Hänleins Einleit. Th. 2. S. 414.
    ***) J. D. S ch u l z e  der schriftstellerische Char. und Werth des Johannes. Weißenfels und Leipzig, 1803. S. 15-35.
    +) a. a. O. S. 47-50.


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wörtlich bis auf unbedeutende Vertauschungen einzelner Ausdrücke mit Synonymen und kleinen Veränderungen der Construction. Zugleich findet sich aber auch hier als Seitenstück zu den scheinbaren historischen Widersprüchen der Evangelisten ein directer Widerspruch in den Worten:
 
Act. 9,7.
oi de andrej oi sunodeuontej autw
22,9.
oi de sun emoi ontej
akouontej men thj fwnhj mhdena de qewrountej thn de fwnhn  o u k  h k o u s a n  tou lalountoj moi.

Die dritte Erzählung weicht von den beiden ersten mehr im Ausdrucke ab (wie Lucas von Matthäus und Marcus), und hat in der längern Rede Jesu 26,16-18, welche Paulus in dem Sinne Jesu hinzuzufügen scheint, etwas ganz Eigenthümliches.
    2) Die Vision des Cornelius (Act. 10,3-6.), wieder erzählt von Petrus (V. 30-32.), wo insbesondere die Rede des Engels bis auf den Zusatz V. 31. wörtlich gleich erzählt wird. Kürzer zusammengezogen findet sich diese Erzählung wieder 11,13.14.
    3) Die Vision des Petrus 10,10-16., und 11,5-10., bis auf die Vertauschung einiger Synonymen wörtlich gleich. Aus diesen Proben leuchtet es ein, wie sehr die Bildung, die Sprache und die Simplicität des apostolischen Zeitalters sich überhaupt zu einer gewissen Gleichheit der Darstellung hinneigte. Es lassen sich leicht die besondern Ursachen auffinden, welche eine um so größere Gleichheit in den evangelischen Erzählungen bewirken mußten. Sie


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liegen in der  h o h e n  W i ch t i g k e i t,  welche sie in den Augen der Jünger hatten, in den besondern  A u f f o r d e r u n g e n  s i e   t r e u  z u  e r z ä h l e n,  und in der  N o t h w e n d i g k e i t,  worin sich die Jünger sahen,  s i e  s e h r  o f t  z u  w i e d e r h o l e n.
    Auf die Wichtigkeit der Lebensgeschichte Jesu, als eines Beweises, daß er der Messias sey, ist schon oben aufmerksam gemacht. Jesus selbst zeigte auf diese höhere Bedeutung seines Lebens bei allen Gelegenheiten hin, und erklärte seinen Schülern häufig, wie durch einzelne Vorfälle in demselben alte Weißagungen erfüllt würden, und warum deshalb jene sich gerade so und nicht anders ereigneten *). Er sagt, daß er so rede, wie er es vom Vater empfangen habe **), nennt seine Worte Geist und Leben ***), und sagt von ihnen, wie er früher vom Gesetze gesagt hatte, daß eher Himmel und Erde als sie vergehen würden +). Dann preiset er seine Schüler selig, daß sie das sähen und hörten, welches zu sehen und zu hören die Propheten vergeblich gewünscht hätten ++). Wenn er bei der scheinbar unbedeutenden Handlung eines Weibes, die ihn salbet, es voraus bestimmt, daß dieselbe überall, wo man das Evangelium verkündete, auch erzählt werden würde +++), so setzt er dabei eine noch weit

    *) Matth. 11,10. 26,24. 31. 54. 56. Marc. 9,11-13. Luc. 4,17-21. 18,31. 21,22. 22,27
    **) Joh. 8,38. 12,50. 14,10. 24. 17,8.
    ***) Joh. 6,63.
    +) Matth. 24,35. Marc. 13,31. Luc. 21,33. cf. Matth. 5,28.
    ++) Matth. 13,16. 17. Luc. 10,23. 24.
    +++) Matth. 26,13. Marc. 14,9.


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größere Aufmerksamkeit seiner Jünger auf die wichtigeren Begebenheiten seines Lebens voraus.
    Welchen Eindruck mußten in diesen Verbindungen die großen Begebenheiten auf die Apostel machen; wie mußten sie ihre ganze Seelenkraft auf die Auffassung derselben verwenden! Wie mußten die kräftigen Worte Jesu sich ihrer Seele aufs festeste einprägen, und ihr ganzes Leben hindurch in derselben nachtönen!
    Als ihr Lehrer von ihnen geschieden war, und sein Leben durch ein ihnen ganz unerwartetes Ende beschlossen hatte, da mußte ihre Begeisterung für ihn noch höher steigen, und die Erinnerung an ihn der einzige Gegenstand ihrer Gesprächen und ihres Denkens werden *). So lebten sie nun mehrere Jahre lang **) aufs innigste verbunden in Jerusalem zusammen. In dieser Zeit vereinigten sich nun die gleichen Erinnerungen bei der gleichen Spracharmuth in gleiche Erzählungsformen, ohne daß diese künstlich verabredet oder auswendig gelernt wären, welches sich bei begeisterten Augenzeugen nicht denken läßt.
    Schon die öftere Wiederholung derselben Dinge führte darauf hin. Man braucht sich nur selbst zu beobachten, um es zu erkennen, wie stark man durch stete Wiederholung derselben Erzählung zu einer festen Form der Darstellung veranlaßt wird; noch auffallender läßt sich diese Bemerkung bei gemeinen Leuten und bei Kindern machen, die wegen ihres geringern Sprachreichthums um so we=

    *) Act. 4,20. ou dunameqa hmeij, a eidomen kai hkousamen, mh lalein.
    **) Nach einer alten Tradition, die Eusebius (h. e. 5,18.) aus dem Apollonius mittheilt, 12 Jahre.


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niger oft im Ausdrucke wechseln können. Die Apostel, die sowohl durch innern Drang als durch ihren Beruf zu einer beständigen Wiederholung der Lebensgeschichte Jesu getrieben wurden, konnten bei der Art ihrer Bildung diesem Einflusse um so weniger entgehen.
    Vor allem andern wurde diese Uebereinstimmung bewirkt durch die hohe Achtung der Schüler Jesu gegen ihren Lehrer. Sie fanden schon bei ihren Gelehrten das durch die mündliche Mittheilungsart nothwendig gemachte Gesetz, daß der Schüler die Worte seines Lehrers ohne alle Veränderung, wie er sie von demselben empfangen habe, seinen Zöglingen überliefern müsse *). Brauchten sie aber bei ihrem Enthusiasmus für Jesum eines solchen Gesetzes, um zu dem Streben ermuntert zu werden, seine Lehre in seinen eigenen Worten zu bewahren? Hatten sie nun mit ihrer gespannten Aufmerksamkeit und ihrer ungeschwächten Seelenkraft sich diese schon da, als sie geredet wurden, tief eingeprägt; so konnte es nicht schwer werden, sie jetzt durch wechselseitige Unterstützung in eine gleiche Form zu bringen. Es darf nicht unbeachtet bleiben, daß der Verfasser der Recognitionen des Clemens, der doch immer ein Schriftsteller des zweiten Jahrhunderts bleibt, und wie dieß schon von Mehreren bemerkt ist, sich vor ähnlichen Schriftstellern durch Nüchternheit und Verständigkeit auszeichnet **), mit dieser

    *) Waehner antiquit. hebr. T. I. pag. 253. §. 25. Verba praeceptoris sine ulla immutatione, ut prolata ab illo fuerant, erant recitanda, ne diversa illi affingeretur sententia. cf. Schabbath, fol. 15,1.
    **) I. G. R o s e n m ü l l e r  historia interpret. libr. sacr. in eccl. christ. P. I. pag. 79-101.


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Vorstellung übereinstimmt, wenn er den Petrus sagen läßt:
    "Ich gestehe, ihr Brüder, daß ich die Fähigkeit der menschlichen Natur bewundere, die zu allem fähig und geschickt ist. Dieß zu sagen werde ich durch eigene Erfahrung veranlaßt, denn wenn die Mitternacht vorüber ist, so erwache ich von selbst, und später kommt kein Schlaf mehr zu mir. Dieß ist mir dadurch eigen geworden, weil ich gewohnt war, die Worte meines Herrn, die ich von ihm selbst gehört hatte, ins Gedächtniß zurückzurufen; aus sehnender Rückerinnerung an sie erhielt ich mein Gemüth und meine Gedanken wach, um durch stete Ueberdenkung und Wiederholung aller einzelnen Worte diese meinem Gedächtnisse einzuprägen *)."
    Bei  i h r e m  Lehrer waren aber die Begebenheiten seines Lebens von gleicher Wichtigkeit als seine Reden. Aus sie wurden gleich diesen, je nachdem sie in messianischer Bedeutung wichtiger oder unwichtiger schienen, mehr oder weniger der Gegenstand der Gespräche der Apostel; Einer kam dem Gedächtnisse des Andern zu Hülfe, um die Folge der Begebenheiten, die einzelnen Umstände mit der möglichsten Treue in der Erzählung zu erhalten; wenn nur Einige Zeugen einer Begebenheit gewesen waren, so wurde sie von diesen mit dem Feuer

    *) Recognit. Clem. II,1. Cum transierit medium noctis, ego sponte jam suscitor, et ultra somnus nequaquam venit ad me: quod mihi accidit ex eo, quia in consuetudine habui, verba Domini mei, quae ab ipso audieram, revocare ad memoriam; et pro ipsorum desiderio, suscitari animis meis et cogitationibus imperavi; ut evigilans ad ea, et singula quaeque recolens ac retexens, possim memoriter retinere.


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begeisterter Schüler erzählt und von den Uebrigen aufgefaßt.
    Wenn auch nicht als Hauptgrund, so mußte doch auch mehr oder weniger ein Blick auf die feindseligen Juden, die schon Jesum so oft in seiner Rede zu fangen suchten, die Apostel zu einer genauen Einigung ihrer Erzählungen bewegen. Noch die spätern Christen erfuhren es, wie diese das Treffliche in einer Rede leicht übersahen, um mit den kleinlichen Künsten einer spitzfindigen Logik über ein weniger sorgfältig gewähltes Wort herzufallen, und Gottlosigkeit und Frevel in demselben zu suchen *). Es leuchtet ein, daß in diesen Verhältnissen nur strenge Uebereinstimmung die Apostel vor dem Vorwurfe, daß sie sich selbst widersprächen, sichern konnte, und daß auf der andern Seite eine genaue vorausgehende Auswahl des Ausdrucks nöthig war, um in diesem den Uebelwollenden keinen Anlaß zu erfolgreichen Angriffen zu geben.
    Daß endlich auch der gemeinschaftliche Gebrauch des A. T., insofern es das Leben Christi in Weißagungen und Typen enthielt, diese Einigung im Ausdrucke beförderte, darf nicht übersehen werden. Es gab nicht nur im Allgemeinen das Muster für eine dem Gegenstande würdige Sprache, sondern insofern gewisse Begebenheiten

    *) Iustinus Martyrus dial. c. Tryph. 343. Wsper ai muiai epi ta elkh prostrexete kai efiptasqe, kan gar muria tij eiph kalwj, e(n de mikron otioun eih mh euareston umin, ti mh nooumenon ti mh proj to akribej, twn men pollwn kalwn ou pefrontikate, tou de mikrou rhmatiou epilambanesqe, kai kataskeuazein auto wj asebhma kai adikhma spoudazete.


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des Lebens Jesu nach der Ansicht der Jünger aufs genaueste sich auf gewisse Stellen des A. T. bezogen, gaben diese auf für jene von selbst Ausdrücke her. Wo dieß aber auch nicht der Fall war, da erhielt doch die Darstellung der Begebenheit, insofern sie mit einer alttestamentlichen Stelle nach einem bestimmten Gesichtspuncte verbunden werden mußte, schon durch diese eine feste Gestalt und Haltung. Desto leichter konnten dann auch die übrigen gleichen Gedanken in gleiche Ausdrücke zusammenfließen.
    Am meisten fixirt wurde aber erst die Form der evangelischen Erzählungen durch den Unterricht, welchen die Apostel denen geben mußten, die zu ihrer Gesellschaft übergetreten waren, und von denen Einige in der Folge wieder Andere bekehren sollten. Man begreift leicht, wie durch die Vorträge, die jetzt nöthig wurden, die von Einem Jünger gehalten, von den Andern gehört wurden, sich die Form der Erzählung noch fester gestalten mußte, als sie es in Gesprächen konnte. Eine noch bestimmtere Veranlassung dazu gab wohl die Erfahrung, wie leicht bei mündlichem Weitererzählen der Character einer Begebenheit durch allmählige Veränderungen verwischt werden könnte. Diesem wurde am sichersten durch feste Erzählungsformen vorgebaut, die in dem Ausdrucke zugleich den Gedanken fesselten. Alle Vorfälle des Lebens Jesu aber hier vorzutragen, war eben so unnöthig, als unmöglich; es mußte also eine Auswahl der eigentlich messianischen Begebenheiten getroffen werden. Ueber die wichtigsten unter diesen wurden die Jünger wohl bald einig, dessen ungeachtet grenzten diese mit den minder wichtigen


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durch unendliche Abstufungen so genau zusammen, daß der Cyclus, welcher jetzt entstand *), nicht  s ch a r f  abgegränzt werden konnte. Einige Erzählungen wurden daher mehr, Andere weniger durchgesprochen und den Neulingen vorgetragen. Jene erhielten dadurch natürlich eine ungleich festere Form des Ausdrucks, die, welche seltener erwähnt wurden, bekamen nur in ihren auffallendsten Theilen feste Ausdrücke, Andere endlich erhielten sich wohl nur in der Privaterinnerung einzelner Jünger, und nahmen fast gar nicht an dieser Conformation des Ausdrucks Theil.
    So scheint es nichts Unwahrscheinliches zu seyn, daß, indem sich zu der Einheit der Ansicht auch die Einheit der Darstellung gesellte, sich in diesem Apostelkreise zu Jerusalem ein in einzelnen Theilen mehr in andern weniger gleichförmiges mündliches Evangelium bildete.
    Daß es an Stellen im N. T. fehlt, wo diese Einigung der evangelischen Erzählungen beschrieben wird, kann gegen die Richtigkeit der Hypothese keinen Grund abgeben. Das ungebildete Zeitalter wird am wenigsten auf  s e i n e  Eigenthümlichkeiten aufmerksam gemacht, weil dieselben ihm etwas gewöhnliches und allgemeines dünken, und ihm der historische Maaßstab zur Vergleichung mit andern Völkern und Zeitaltern fehlt. So auffallend uns daher auch jene Erscheinung dünken mag, so wenig schien

    *) Liegt nicht schon in dem pasin Luc. 1,3. die Voraussetzung eines vorher bestimmten Erzählungscyclus? ta panta des Lebens Jesu kann er nicht meinen, denn die hätten unendliche volumina gefüllt (Joh. 21,25.); es müssen also seyn ta panta, a paredosan oi ap' arxhj autoptai.


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sie den Aposteln merkwürdig, die durch ihren Character, durch die Sitte ihres Landes und durch andere Umstände wie von selbst dazu gezogen wurden. Paulus dringt daher nur darauf, daß sein Evangelium mit dem der übrigen Jünger durchaus übereinstimme *); daß sich diese Uebereinstimmung auch auf Worte erstrecke, braucht er seinen Zuhörern nicht zu sagen, und wir können es z. B. aus der Vergleichung seiner Erzählung vom Abendmahle 1Cor 11,23. mit denen, welche die drei ersten Evangelisten mittheilen, leicht schließen.

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§. 8.

U e b e r  d i e  F o r t p f l a n z u n g  d e s  E v a n g e l i i  a l s  p a r a d o s i j,  n e b st  e i n i g e n  h i st o r i s ch e n  P a r a l l e l e n.

    Wenn wir darin übereingekommen sind, daß die evangelischen Erzählungen sich schon unter den Aposteln in gleichen Formen ausbildeten, so dürfen wir jetzt das, was oben von der Ueberlieferung des Evangelii überhaupt gefunden ist, auf die Ueberlieferung dieser bestimmten Erzählungsformen übertragen. Sie machten also die upotupwsij logwn ugiainontwn aus, die der künftige Lehrer sich in einem besondern Unterrichte einprägen mußte, mit ihnen ging die Kraft des Zeugnisses auf denselben über, durch sie wurde das Zeugniß der Augenzeugen  g e s i ch e r t **) auf die spätern Generationen gebracht (§. 5.).

    *) Gal. 1,6-9. 1 Cor 15,11. 2 Cor. 11, 4. 5.
    **) Hebr. 2,3. upo twn akousantwn eij hmaj ebebaiwqh.


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    So wie also die deuterwseij der jüdischen Lehrer von einer Succession der andern überliefert wurden (hp l(b#O hrwt); so wurde es auch das mündliche Evangelium. Spuren davon sieht man noch darin, daß die spätern Orthodoxen die Aechtheit ihres Evangeliums durch die ununterbrochenen Successionen (diadoxai) der Lehrer zu erweisen suchen, wie die Rabbinen durch ihre tlbqh tl#Ol#O die Reinheit ihrer Lehre.
    Sollte man es schwierig finden, daß die Schüler sich ohne alle Schrift blos durch mündliches Anhören das Evangelium einprägten? Man könnte darauf mit der allgemeinen Bemerkung antworten, daß in einer Zeit, wo die mündliche Sage die Bewahrerin alles Merkwürdigen ist, das Gedächtnis der Menschen stärker und treuer sey, als in einer andern, wo man gewohnt ist, sich auf Schriften zu verlassen, und daß erst der allgemeinere Gebrauch der Schreibekunst eine Hauptursache der Vernachlässigung des Gedächtnisses geworden ist *). Aber man kann ja aus der spätern Kirchengeschichte Beispiele aufführen, daß Menschen, ohne selbst die Buchstaben zu kennen, durch bloßes Anhören nicht blos das Evangelium, sondern die

    *) Plato Phaedr. Bd. 10. S. 380. Socrates läßt den Thanus, König von Egypten, dem Thaut sagen: "die Buchstaben werden Veranlassung zur Vernachlässigung des Gedächtnisses geben, und die Vergeßlichkeit befördern, indem nun jeder im Vertrauen auf die Schrift sich von äußern Zeichen wird erinnern lassen, ohne die Erinnerungskraft zu üben."
    Caes. de bell. gall. 6,14. führt als Grund, weshalb die Druiden ihre Lehre nur mündlich fortpflanzten und das Aufschreiben derselben verboten, unter andern auch die Ausbildung des Gedächtnisses an, quod fere plerisque accidit, ut praesidio litterarum diligentiam in perdiscendo ac memoriam remittant.


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g a n z e  h e i l i g e  S ch r i f t  ihrem Gedächtnisse einprägten. Augustin erzählt dieß von dem ägyptischen Mönche Antonius *), wie Gregor der Große von einem gewissen Servulus **) in Rom. Der Letzte kaufte nämlich ein Exemplar der heiligen Schrift, ließ sich aus ihm ohne Unterbrechung vorlesen, und brachte es so bei gänzlicher Unkunde der Buchstaben dahin, daß er die ganze Schrift auswendig wußte. Wie sollten die Schüler der Apostel, bei denen der Enthusiasmus für das entstehende Christentum so groß war, nicht eben so gut das Evangelium, das sie im Umrisse schon kannten, blos durch das oft wiederholte Anhören desselben ihrem Gedächtnisse haben einprägen können? Ein mechanisches Auswendiglernen der Erzählungen, welches mit der Begeisterung jener Zeit einen zu schneidenden Contrast bilden würde, darf man deshalb noch nicht annehmen. Und wenn man von dem Umfange der vorhandenen Evangelien auf den des ersten Cyclus evangelischer Erzählungen schließt; so war doch dieser wahrlich nicht so groß, daß man eine besondere Anstrengung voraussetzen müßte, ihn dem Gedächtnisse einzuprägen. Die Apostel wiederholten oft im Kreise ih=

    *) August. de doctr. christ. in prol. (T. III. p. 6.): Sine ulla scientia litterarum scripturas divinas et memoriter audiendo tenuisse, et prudenter cogitando intellexisse praedicatur.
    **) Gregor. Magn. hom. XV. in evangel. (T. III. p. 40.): Nequaquam litteras noverat, sed scripturae sacrae sibimet codices emerat, et religiosos quosque in hospitalitatem suscipiens, hos coram se legere sine intermissione faciebat. Factumque est, ut quantum ad mensuram propriam attinet, plene sacram scripturam disceret, quum, sicut dixi, litteras funditus ignoraret.


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rer Schüler jene upotupwsij ugiainontwn logwn; dieß reichte hin, diesen mit den Sachen selbst die sich stets gleich bleibende Form einzuprägen, die ihnen nahc der Sitte des Landes, bei der hohen Achtung gegen das Evangelium, als den Grundpfeiler ihres Glaubens, und gegen die Apostel, als Zeugen desselben, nicht minder heilig erscheinen mußte.
    Einen ungefähren Begriff dieses Lehrens und Lernens giebt Irenäus da, wo er den Unterricht, den er als Knabe beim Polycarpus genoß, als Greis beschreibt. Was damals geschehen war, hatte sich seinem Gedächtnisse weit fester eingeprägt, als das, was ihn in spätern Zeiten betroffen hatte. Der Ort, wo Polycarp saß, wenn er lehrte, sein Gang, sein Eintritt, seine Gestalt, seine Reden als Volk, seine Erzählungen von seinem Umgange mit Johannes und andern Augenzeugen, und von dem, was er von diesen über die Wunder und die Lehre Jesu gehört hätte: alles dieses war dem aufmerksamen Schüler noch so gegenwärtig, daß er noch in seinem Alter es wieder zu erzählen im Stande zu seyn glaubte, obgleich er es nicht dem Papiere und den Buchstaben, sondern seinem Gedächtnisse anvertraut, und durch stete Erinnerung erneut hatte *).
    Es giebt indeß in der ältesten Kirchengeschichte auch andere Beispiele, wo gewisse Formeln sich in mündlicher Uebereinkunft bildeten, und durch Tradition fortgepflanzt worden sind. Namentlich gilt dieß von den Liturgien.

    *) Iren. epist. ad Florinum (ap. Euseb. h. e. V,19.).


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B a s i l i u s  d e r  G r o ß e *) sagt, daß die Worte der Anrufung, welche vor und nach den Einsetzungsworten bei dem Abendmahle gesprochen würden, von Keinem der heiligen Männer schriftlich hinterlassen wären, daß sie aus der Tradition geschöpft würden, aber dennoch von großer Bedeutung bei dem Mysterium wären. Er hebt dieß als ein einzelnes Beispiel zum Beweise aus, daß überhaupt ta agrafa twn eqwn nicht geringere Achtung verdienten, als ta dogmata kai khrugmata ek thj eggraqou didaskaliaj. Da nun wirklich auch bei der Verfolgung des Diocletian, wo vorzüglich den heiligen Schriften nachgespürt wurde, und sich auch nicht selten Traditoren fanden, doch nie der Verlust liturgischer Schriften erwähnt wird; so ist die Behauptung desto mehr gesichert, daß auch die Liturgien in den ersten Jahrhunderten nur durch Tradition fortgepflanzt und nicht aufgeschrieben sind **).
    Eben so versichert B a s i l i u s ***) von dem Glau=

    *) Basil. de Spir. Sanct. c. 27. ta thj epiklhsewj rhmata epi th anadeicei tou artou thj euxaristiaj kai tou pothriou thj eulogiaj, tij twn agiwn eggrafwj hmin kataleloipen; ou gar dh toutoij arkoumeqa, wn o apostoloj h to euaggelion epemnhsqh, alla kai prolegomen kai epilegomen etera, wj megalhn exonta proj to musthrion thn isxun, ek thj agrafou didaskaliaj paralabontej.
    **) Renaudot collect. liturg. oriental. Tom. I. diss. I. pag. 9. (Paris, 1716.).
    I. Bingham antiquit. eccl. T. V. pag. 116. (ed. Hallensis).
    ***) Basil. l. c. epileiyei me h hmera, ta agrafa thj ekklhsiaj musthria dihgoumenon. ew ta alla: authn de thn omologian thj pistewj, pisteuein eij patera kai uion kai agion pneuma, ek poiwn grammatwn exomen;


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bensbekenntnisse, daß es nicht schriftlich, sondern nur mündlich auf seine Zeit gekommen wäre; und hiermit harmonirt das Kirchengesetz, daß die Catechumenen das Symbolum nicht aufschreiben, sondern durch öfteres Anhören den Herzen einprägen sollten *), weshalb es auch den Namen to maqhma (apo tou ekmanqanein) **) hatte. Der Geist dieser Vorschrift ist in der spätern Zeit, wo die Christen schon so sehr in den polygraphischen Geist der Römer und Griechen eingegangen waren, und Tausende von Büchern über ihre Religion abgefaßt hatten, so befremdend, daß man ihren Ursprung nothwendig in einer einfachern Zeit aufsuchen muß. Erwägt man die Consequenz, mit welcher die Kirchenväter in den angeführten Stellen das Auswendiglernen des Symbolums stets mit dem Ausdrucke: "auf die Tafeln des Herzens, ins Herz schreiben," bezeichnen; so wird man auf die

    *) C o n c.  L a o d i c. (im J. 364.) can. 46. (ap. Harduin. T. I. p. 790.): dei touj fwtizomenouj thn pistin ekmanqanein.
    C y r i l l.  H i e r o s.  catech. 5. de fidei dogm. en oligoij toij stixoij to pan dogma thj pistewj perilambanomen, oper kai ep' authj thj lecewj mnhmoneusai umaj boulomai, kai par' eautoij meta pashj spoudhj apaggeilai, o u k  e i j  x a r t a j  a p o g r a f o m e n o u j,  a l l'  e n  k a r d i a  t h|  m n h m h|  s t h l o g r a f o u n t a j,  fulattomenouj en tw meleta|n.
    A u g u s t i n. edit. Bened. T. V. Serm. 212. p. 653. Nec ut eadem verba symboli teneatis, ullo modo debetis scribere, sed audiendo perdiscere, nec, cum didiceritis, scribere, sed memoria semper tenere atque recolere. - Bald darauf: audiendo symbolum discitur, nec in tabulis vel in aliqua materia sed in corde scribitur.
    H i e r o n y m u s  epist. 61. ad Pammach. c. 9. Symbolum fidei et spei nostrae, quod ab apostolis traditum, non scribitur in charta et atramento, sed in tabulis cordis carnalibus.
    **) B i n g h.  ant. eccl. T. IV. pag. 66.


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urchristliche Idee, welche oben entwickelt ist, zurückgeführt, daß in den messianischen Zeiten das göttliche Gesetz in die Herzen der Menschen geschrieben werden sollte. So wie in den ältesten Zeiten das ganze Evangelium auf diese Art bewahrt wurde, so wurde in der Folge nach Canonisirung unserer Evangelien, um dieß Zeichen der eingetretenen messianischen Zeiten nicht verschwinden zu lassen, jene Sitte auf das Glaubensbekenntniß (des euaggelion suntetmhmenon *) evangelium in nuce) übergetragen.
    So übereinstimmend indeß auch jener Erzählungscyclus bei den palästinensischen Jüngern sich bildete, so mußte er sich doch nach den Umständen modificiren, als das Evangelium im Auslande gepredigt wurde. So wie die Jünger erkannten, daß auch die Heiden am Evangelio Theil hätten, und so wie diesen dasselbe gepredigt wurde, so mußten hier von selbst die Erzählungen fallen, in denen eine ausschließliche Bestimmung der Juden zum Reiche Gottes gelehrt wird. Besonders veränderte sich jener Cyclus bei dem Paulus, der mit einer ganz andern Bildung, als der, welche die palästinensischen Jünger erreicht hatten, zum Christenthume übergegangen war. Obgleich er die Erzählungen selbst nicht veränderte, so mußte er doch die am meisten hervorheben, welche seinen Ansichten am meisten entsprachen, während er andere als minder wichtig wegließ. Ein ächt palästinensisches Evan=

    *) Dionys. Areopag. de myst. Theolog. c. 1. outw goun o qeioj Barqolomaioj fhsi, kai pollhn thn qeologian einai kai elaxisthn, kai to euaggelion platu kai mega, kai auqij suntetmhmenon.


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gelium giebt Matthäus, ein im Auslande modificirtes palästinensisches, Marcus, ein paulinisches, Lucas.
    Nachdem das Evangelium in verschiedenen Ländern gepredigt war, hatte es natürlich das Schicksal aller Tradition; da es Verschiedenen von einander Unabhängigen zu Theil wurde, bildete es sich verschieden aus, gleich einem Puncte, der nach mehreren Richtungen in Linien ausgeht, die, je weiter sie fortschreiten, desto stärker divergiren. Wäre es möglich, diese Aeste und Zweige der Evangelientradition zu bestimmen, so würde es leicht seyn, den ältesten apocryphischen Evangelien ihre Stelle anzuweisen und ihr Verhältniß unter sich und zu dem ursprünglichen Cyclus zu bestimmen.
    Doch nun von dem Einzelnen einzeln.

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§. 9.

P a u l i  E v a n g e l i u m.

Wie Paulus mit dem Cyclus der evangelischen Erzählungen bekannt geworden ist, muß dunkel bleiben, da er selbst nichst deutliches darüber sagt, und sich bald auf Autopsie, bald auf Offenbarung, bald auf Tradition beruft *). Vielleicht läßt sich dieß so erklären: Paulus, der sich als Schüler des Gamaliel in Jerusalem längere Zeit aufgehalten haben muß, kannte, wie alle Pharisäer, Jesum sehr wohl. Er theilte mit diesen ihre Ansichten von der Heiligkeit des mosaischen Gesetzes, und sahe in Jesu einen Menschen, der mit Hülfe des Teufels jenes Gesetz verdrängen wollte. Wenn er bei diesen Besorg=

    *) 1 Cor. 9,1. Gal. 1,11. 12. 1 Cor. 15,3.


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nissen auf den Neuerer mit dem starken (obgleich antichristischen) Interesse eines Eiferers für die Religion der Väter achtete; so mußten die meisten Thaten Jesu theils durch das Gerücht, theils durch eigene Ansicht ihm wohl bekannt werden und sich seinem Gedächtnisse einprägen. Jene wunderbare Begebenheit veränderte nur den Gesichtspunct, aus welchem er das Leben Jesu betrachtete: die Form, nicht die Materie des Evangelii wurde ihm also geoffenbaret. Welcher Jünger, ob Ananias oder ein Anderer, in der Folge zur Vervollständigung seiner Kenntniß des Lebens Jesu beigetragen habe, läßt sich nicht ausmitteln. Es war wahrscheinlich einer von denen, die früher von den Aposteln in Jerusalem das Evangelium empfangen hatten, und dann durch die Stephanische Verfolgung zerstreut wurden. Auch Barnabas kann Antheil daran gehabt haben, wenigstens ist soviel wahrscheinlich, daß er sich unter diesem zu einem christlichen Lehrer ausbildete. Denn dieser nahm sich zuerst seiner in Jerusalem an *), und zog ihn dann nach Antiochien, wo er im Auftrage der Apostel die Gemeinde einrichten sollte **). Daß kein Apostel ihn unterrichtete, scheint daraus zu erhellen, daß er mehrere Jahre nach seiner Bekehrung das Bedürfniß fühlt, sein Evangelium mit dem der Apostel zu vergleichen ***).

    *) Act. 9,27.
    **) Act. 11,26.
    ***) Gal. 2,2. ad h. l. Tertull. adv. Marc. IV,2. Siquidem (Paulus) propterea Hierosolymam ascendit ad cognoscendos Apostolos et consultandos, ne forte in vanum cucurrisset, id est, ne non secundum illos credidisset et non secundum illos evangelizaret etc.

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§. 10.

U e b e r s e tz u n g  d e s  E v a n g e l i i  i n s  G r i e ch i s ch e. -
E v a n g e l i u m  d e r  B e s ch n e i d u n g  u n d  E v a n g e l i u m  d e r  V o r h a u t *).

    Obwohl die Apostel ihren Wirkungskreis anfangs nur auf Palästina beschränkten, und deshalb das Evangelium wohl am meisten syrochaldäisch vortrugen; so waren doch schon in den ersten Zeiten auch Hellenisten Mitglieder der Gemeinde zu Jerusalem, und dieß mußte den Aposteln bald Veranlassung geben, ihr syrochaldäisches Evangelium auch griechisch auszubilden. Da diese Sprache ihnen noch weniger geläufig war, als jene, so war ihnen, um das Evangelium ohne Anstoß griechisch vortragen zu können, eine feste Form der evangelischen Erzählungen noch weit mehr Bedürfniß, als vorher. Indeß scheint die Ausbildung der gemeinsamen griechischen Uebersetzung, die man sich eben so zu denken hat, wie die frühere Vereinigung zu einem syrochaldäischen Typus, noch nicht vollendet gewesen zu seyn, als sich in Antiochien die erste christliche Gemeinde außerhalb Palästina bildete, die zum Theil auch aus bekehrten Heiden bestand. Wenigstens traute es sich kein Apostel zu, schon unter Griechen zu predigen, und man sandte deshalb zur festern Einrichtung der Gemeinde den Hellenisten Barnabas dahin. Dieser zog den Paulus, der sich schon gleich anfangs vorzüglich für die Hellenisten interessirt hatte **),

    *) Oder nach  E i ch h o r n  (Einl. ins N. T. Th. 1. S. 601. Anm.)  H e b r ä i s ch e r  und  G r i e ch i s ch e r  Evangelienstamm.
    **) Act. 9, 29.


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ebenfalls aus Tarsus nach Antiochien; und jetzt verdeutlichte es sich diesen beiden Männern, daß das Christenthum unabhängig von dem mosaischen Cultus, und eine für alle Völker bestimmte Religion sey, worauf alsdann der Plan zu einer allgemeinen Bekehrung der Heiden folgte. Die Apostel in Jerusalem gingen zwar noch in denselben nicht ein, sondern blieben als Judenapostel bei der strengen Beobachtung des mosaischen Gesetzes; sie sprachen aber die bekehrten Heiden von der Verpflichtung, dasselbe zu halten, frei *), und erkennten den Barnabas und Paulus förmlich als Heidenapostel an, denen das Evangelium der Vorhaut anvertraut sey. Obgleich in dem Sinne der Apostel dieses Evangelium mit dem der Beschneidung durchaus einerlei war, wie dieß besonders Paulus stark urgiert; so wurde doch von manchen Christen ein Unterschied gemacht, und Einige hielten sich mehr an Paulus, Andere mehr an Petrus **). Und es läßt sich auch beinahe nicht anders denken, als daß die Veränderung des Wirkungskreises auf den Charakter des Evangelii Einfluß gehabt haben sollte. Was zuerst seine äußere Form betrifft, so bildete es sich jetzt zuerst vollends griechisch aus ***). Dieses griechische Evangelium

    *) Iren. III, 12. Hi qui circum Iacobum Apostoli gentibus quidem libere agere permittebant - -. Ipsi vero - - perseverabant in pristinis observationibus, - - religiose agebant circa dispositionem legis, quae est secundum Moysem. Act. 15. cf. 21, 20.
    **) 1 Cor. 1, 12.
    ***) Nicht Jesus der Messias, sondern der Christus wurde in Antiochien verkündet, daher hier der Name Xristianoi zuerst entstand. Act. 11, 26.


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der Heidenapostel war zwar nur eine treue Uebersetzung des syrochaldäischen, und eine weitere Ausbildung der schon in Jerusalem begonnenen griechischen Uebersetzung: allein die Entfernung von Jerusalem und insbesondere die genauere Kenntniß, welche jene Männer von der griechischen Sprache hatten, mußte auf die Sprache ihres Evangeliums nothwendig einwirken, die härtesten Orientalismen vermeiden, und dem Ausdrucke mehr griechische Farbe geben lassen; obgleich die Achtung gegen die Apostel in Jerusalem, wie die Abhängigkeit von dem syrochaldäischen Cyclus es nicht zuließ, daß diese griechische Uebersetzung ganz ihren orientalischen Ursprung verläugnete. Was den Inhalt des Evangeliums der Vorhaut betraf, so mußten, wie es scheint, die Lehrer der Heiden für ihren veränderten Wirkungskreis auch eine neue Auswahl der ihnen überlieferten Erzählungen treffen: indem sie zwar die characteristisch christlichen unverändert aufnahmen, aber die blos für Juden wichtigen fallen ließen, und dagegen andere, welche mehr die Heiden angingen, stärker urgirten. Die Geschichte muß in der Folge lehren, wie weit diese Vermuthungen über das Evangelium der Vorhaut sich bestätigen.
    Durch den Erfolg, mit welchem die Heidenapostel das Evangelium in allen Ländern predigten, wurden die Judenapostel in Jerusalem natürlich noch stärker aufgefordert, sich zur Predigt in fremden Landen anzuschicken, und dazu ihr schon früh begonnenes Werk - die griechische Uebersetzung des Evangelii zu vollenden. Wie schon oben erinnert ist, so war ihnen wegen ihrer geringern Kenntniß der griechischen Sprache jetzt eine feste


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Form  der evangelischen Erzählungen noch nothwendiger, um ohne Anstoß und mit passendem Ausdrucke das Evangelium vortragen zu können. Als daher auch die Judenapostel sich in fremde Länder zur Predigt des Evangeliums zerstreuten; so nahmen sie eine festere Form desselben aus Palästina mit, und ihre Evangelien harmonirten immer in Form und Ausdruck mehr unter sich, als mit dem Evangelio der Heidenapostel.

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§. 11.

N i e d e r s ch r e i b u n g  d e s  E v a n g e l i i.

    So wurde dasselbe Evangelium in zwei Sprachen gepredigt, syrochaldäisch den Juden in Palästina, griechisch Juden und Heiden in den übrigen Ländern. Je weiter es sich ausbreitete, desto mehr mußten sich Einzelne finden, die an schriftliche Mittheilung gewöhnt auch das Evangelium schriftlich zu besitzen wünschten. Dadurch wurden denn Mehrere veranlaßt, dasselbe nieder zu schreiben, und unter ihnen auch unsere drei ersten Evangelisten. So entstand eine paradosij eggrafoj. Nur Lucas giebt in seinem Prologe eine kurze Nachricht von seinem Zwecke, und sagt, indem er sein Evangelium einem Theophilus bestimmt, deutlich genug, daß es nur als eine Privatschrift anzusehen sey.
    Und in der That eine höhere Bestimmung konnte unter den damaligen Umständen ein schriftliches Evangelium nicht haben. Das Zeugniß von Jesu hatte seine Kraft nur im mündlichen Vortrage, in der Persönlichkeit des Lehrers, der entweder selbst Augenzeuge gewesen war


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oder es von Augenzeugen empfangen und treu aufbewahrt hatte. Es konnte nur niedergeschrieben werden, um denen, die von Jesu Thaten (der Zeit oder dem Orte nach) fern lebten, ein Hülfsmittel in die Hände zu geben, welches ihnen nach dem mündlichen Vortrage zur Wiedererinnerung dienen und eine desto deutlichere und genauere Uebersicht verschaffen sollte.
    Deshalb schrieb ein jeder die evangelischen Erzählungen nieder, wie er sie empfangen hatte *), und der Werth seiner Syngraphe bestimmte sich darnach, ob er die Tradition rein, oder wie sie sich mit der Zeit verunstaltete, empfangen, und ob er sie richtig aufgefaßt hatte.
    Diese Niederschreibung des Evangelii bewirkte, da sie blos Privatsache war, durchaus keine Aenderung in der Manier des Unterrichts. Es wurde von den Evangelisten in derselben Gestalt nachher mündlich gepredigt, wie es von ihnen niedergeschrieben war. So wie dieß von Marcus ausdrücklich in der Sage erhalten ist **), so läßt es sich auch im Allgemeinen behaupten.
    Nach dieser Ansicht können die ersten Evangelienschreiber am treffendsten mit den griechischen Logographen vor Herodot verglichen werden, wie sie Dionysius aus Halicarnassus schildert (Iudic. de Thucydide edit. Sylburg. T. II. pag. 138.):
    outoi proairesei te omoia exrhsanto peri thn eklo-

    *) Belege sind die Sagen über die Entstehung der 3 Evangelien ; s. unten.
    **) Euseb. H. E. II, 16. touton de Markon prwton fasi epi thj Aiguptou steilamenon to euaggelion, o dh kai sunegrayato, khrucai (cf. Epiph. Haer. 51, 6.).


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ghn twn upo qesewn * kai dunameij ou polu ti diaferousa esxon allhlwn - - kai autaj de tautaj i(storiaj ou) sunaptontej allhlaij, alla kat' eqnh kai poleij diairountej kai xwrij allhlwn ekferontej, ena kai ton auton fulattontej skopon, osai dieswzonto - - mnhmai -, tautaj epi thn koinhn apantwn gnwsin ecenegkein,  o i a j  p a r e l a b o n *  m h t e  p r o s t i q e n t e j  a u t a i j  t i  m h t e  a f a i r o u n t e j.
    Es braucht nur angedeutet zu werden, wie leicht sich durch diese Ansicht andere Schwierigkeiten der ältesten Geschichte der Evangelien lösen. Hier nur dieses: Aus den oben entwickelten Gründen kann man nicht glauben, daß ein Evangelist den Andern benutzt oder nur gekannt habe. Aber wie stimmt dieß mit der engen Verbindung der Gemeinden im apostolischen Zeitalter? Nur dann, wenn die Evangelien Privatschriften waren, auf welche von Andern nicht sonderlich geachtet wurde, am wenigsten von den Evangelisten, welche in dem Besitze der Quelle, der paradosij agrafoj, waren.

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§. 12.

D i e  P o l l o i  d e s  L u c a s.

In dem Prologe des Lucas finden wir zuerst schriftliche Evangelien erwähnt, und es fragt sich, wo und wie diese entstanden sind? Diese Frage läßt sich nur aus der Stelle selbst mit Hinsicht auf die damaligen Zeitumstände beantworten; denn die spätern Erklärungen der Kirchenväter, die auf das epexeirhsan zu vielen Nachdruck legten, und nun alle mögliche apocryphische Evan=


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gelien, unbekümmert um ihr Alter, dieser Stelle unterschoben, können nicht als historische Nachrichten angesehen werden.
     Nur Lucas, der sich in Gesellschaft des Paulus beinahe immer unter Griechen aufhielt, erwähnt dieser frühen Evangelienschreiber; und so werden wir schon hierdurch darauf geführt, diese unter den Griechen zu suchen. Bestätigt wird diese Vermuthung dadurch, daß die Griechen, die sich seit Alexander so mächtig zur Polymathie und zu der mit dieser innig verbundenen Polygraphie neigten, nach diesem Character weit eher das Bedürfniß einer schriftlichen Abfassung des Evangelii fühlen mußten, als die einfachern sich mit mündlicher Tradition begnügenden Hebräer*). Endlich ist es auch nicht zu übersehen, daß jene Begebenheiten in Palästina vorgefallen waren, daß die Nachrichten davon hier eben so bekannt, als in andern Ländern neu seyn mußten, daß also in diesen eine Unterstützung des Gedächtnisses durch schriftliche Abfassung nöthiger war, als in jenem Lande.
     So ist es wahrscheinlich, daß die Ersten, welche das Evangelium niederschrieben, nicht Hebräer, sondern Griechen waren, welche die (wahrscheinlich von Paulus) mündlich mitgetheilten Erzählungen, so wie sie dieselben aufgefaßt hatten, zu ihrem und ihrer Freunde Gebrauch schriftlich verfaßten. Diese Quelle wird ihnen in den Worten: kaqwj paredosan hmin oi ap' arxhj autoptai

*) So bemerkt noch lange nachher der Alexandrinische Clemens, daß die Lesung der Schriften des Herrn besonders für die nöthig sey, welche in g r i e ch i s ch e n Schulen gebildet zum Christentume übergingen. Strom. VI. c. 11. pag. 786. ed. Potter.


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kai uphretai tou logou, welche offenbar zum Vordersatze gehören, zugeschrieben. Denn daß paradounai hier von mündlicher Erzählung zu nehmen ist, leuchtet aus dem Gegensatze, den es mit dihghsin anatacasqai bildet, ein. Auch die Paradosis, welche sie niedergeschrieben hatten, war von den Aposteln ausgegangen und durch mehr oder weniger Mittelspersonen (diadoxoi) auf sie gekommen; wie überhaupt das Evangelium auf diese Art fortgepflanzt wurde.
     Diese Schriften sah Lucas, bemerkte zwar ihre Mängel, wurde aber dadurch auf den Gedanken gebracht, für seinen Theophilus das Evangelium in einer reinern Gestalt niederzuschreiben. Seine Quelle war zwar mit der jener Griechen dieselbe - die apostolische Paradosis; allein sie konnten als Neulinge manche Erzählungen falsch aufgefaßt, manchen, da sie einzeln, wie es die Gelegenheit mit sich brachte, erzählt waren, eine falsche Stelle angewiesen, manche ganz übergangen haben. Lucas deutet durch das epexeirhsan auf diese Voreiligkeit im Schreiben, und verspricht bei seinern genauern Bekanntschaft mit Paulus eine vollständigere (parhkolouqhkoti anwqen pasin), genauere (akribwj) und geordnetere (kaqechj) Sammlung.

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§. 13.

N i e d e r s ch r e i b u n g  u n s e r e r  d r e i  e r st e n  c a n o n i s ch e n  E v a n g e l i e n.

    Zu welcher Zeit diese Evangelien niedergeschrieben sind, kann wohl nie genau angegeben werden, und es


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reicht auch die allgemeine Annahme, daß sie um die Mitte des ersten Jahrhunderts geschrieben sind, hin. Fragen wir nach der Art ihrer Entstehung, so antwortet eine bis an die apostolischen Zeiten reichende Sage Folgendes:
    M a t t h ä u s,  der erst den Hebräern gepredigt hatte, schrieb, als er zu andern Völkern gehen wollte, sein Evangelium für hebräische Juden ursprünglich syrochaldäisch nieder *).
    M a r c u s,  schon früh mit den Aposteln, namentlich mit Petrus **), bekannt, anfangs Begleiter des Paulus und des Barnabas, dann des Barnabas allein, endlich des Petrus (der ihn in 1 Petr. 5, 13. o uioj mou nennt), schrieb auf Ansuchen der Gemeinde zu Rom das Evangelium, wie es Petrus öffentlich vorgetragen hatte ***); daher auch sein Evangelium zuweilen dem Petrus zugeschrieben wurde +).
    L u c a s,  der den Paulus auf vielen Reisen begleitete, schrieb das Evangelium, wie es Paulus verkün=

    *) Papias (ap. Euseb. III, 39.). Irenaeus III, 1. (ap. Euseb. V, 8.). Origenes (ap. Euseb. VI, 25.). Eusebius III, 24. Hieron. cat. 3.
    **) Dieß läßt sich daraus schließen, daß Petrus nach seiner Befreiung aus dem Gefängnisse sogleich zu dem Hause der Maria, der Mutter des Marcus, geht.  Act. 12, 12.
    ***) Papias l. c. touq' o presbuteroj (Iwannhj) elege. Markoj men ermhneuthj Petrou genomenoj, osa emnhmoneusen akribwj, egrayen. Irenaeus, Origenes ll. cc. Clem. Alex. (ap. Euseb. VI, 14.). Euseb. II, 15.
    +) Tertull. adv. Marc. IV, 5. licet et Marci, quod edidit, Petri affirmetur, cujus interpres Marcus.


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dete, nieder *). Insofern das mündliche Evangelium des Paulus und das schriftliche des Lucas dasselbe war, hat auch eine andere Sage einen vernünftigen Sinn, nach welcher Paulus, wenn er von seinem Evangelio redet (wie Röm. 2, 16. 1 Cor. 15, 1. u. s. w.), daß des Lucas meint **).
    Man hat die beiden letzten Sagen über den Ursprung der beiden Evangelien Marci und Lucä, so allgemein sie in der alten Kirche auch waren, in den neuern Zeiten gewöhnlich als grundlos abgewiesen. Sie sollen aus dem Streben entstanden seyn, den Evangelien der beiden Nichtapostel apostolisches Ansehen zu geben, anfangs begünstigt durch den Doppelsinn des Worts euaggelion, das sowohl die Lehre als die Lebensbeschreibung Jesu bedeuten konnte. Die erste Behauptung wird aber schon durch die Bemerkung niedergeschlagen, daß der erste Zeuge für den petrinischen Ursprung des Evangeliums Marci Papias ist, ein Mann, der nach seiner eigenen Erklärung wenig von Syngraphen hielt, und der sich hier auf einen noch ältern bis in die apostolischen Zeiten reichenden Zeugen, den Presbyter Johannes beruft. Das Urtheil des Eusebius über den Papias, daß er mikroj ton noun gewesen sey, ist vielfältig gemißbraucht; Eusebius selbst sagt, daß er es nur aus seinen Schriften geschlossen habe,

    *) Iren. l. c. Loukaj o akolouqoj Paulou to up' ekeinon khrussomenon euaggelion en bibliw kateqeto. Orig. l. c. Tertull. adv. Marc. IV, 5 et 2. Euseb. III, 24.
    **) Euseb. III, 4. Hieron. in catal. Quotiescunque in epistolis suis dicit Paulus: juxta evangelium meum, de Lucae significat volumine.


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und er hatte dabei wohl die eigenthümlichen dogmatischen Ansichten des Papias, die allerdings von der spätern Orthodoxie bedeutend abwichen, im Auge; historische Zeugnisse des Papias als falsch abzuweisen, kann durch jenes Urtheil um so weniger begründet werden, als man von Menschen mit geringem Verstande am wenigsten künstliche Verdrehungen oder Erdichtungen erwarten darf. Die zweite Behauptung, daß der Doppelsinn des Worts euaggelion die Ursache jener Sagen sey, setzt eine Spaltung der Begriffe "Lehre Christi" und "Lebensbeschreibung Christi" voraus, wie sie im apostolischen Zeitalter gar nicht vorhanden war. Ohne die Erzählung von dem messianischen Leben Christi konnten die Apostel seine Lehre nicht predigen, in jenem war zugleich diese gegeben. Waren also Marcus und Lucas Petri und Pauli Schüler, so hatten sie von diesen auch nothwendig das historische Evangelium erhalten.
    Nimmt man jene Sagen an, so schließen sie sich nicht allein genau an die oben entwickelte Ansicht über die ursprüngliche Fortpflanzung des Evangelii an, und bestätigen dadurch dieselbe, sondern sie stimmen auch vollkommen mit dem innern Verhältnisse überein, worin die Evangelien zu einander stehen.
    Es sind schon oben die Ursachen bemerkt, weshalb die Judenapostel, als sie das Evangelium griechisch predigten, unter sich mehr im Ausdrucke harmoniren mußten, als mit den Heidenaposteln. So erklärt sich dann leicht, wie Matthäus und Petrus, dem palästinensischen Typus treu, auch im Auslande mit gleichen Worten das Evangelium vortragen konnten; und wenn Marci Evan=


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gelium für das des Petrus gelten darf, so ist das häufige wörtliche Zusammentreffen des Matthäus und Marcus, selbst in größeren Abschnitten, wie ihre harte hebraisirende Sprache erklärt. Insofern Marcus mehrere lateinische Wörter *) gebraucht, und den lepton nach dem römischen Quadrans **) bestimmt (12, 42.); so wird dadurch die Sage, daß er in Rom geschrieben habe, bestätigt.
    Lucas hingegen weicht von den beiden ersten Evangelien fast durchgängig in Hinsicht der Sprache ab, und nähert sich dem reinern Griechischen, so, daß man in ihm den gebildeteren Hellenisten nicht verkennen kann. Auffallend wird die Sage, daß er das vom Paulus gepredigte Evangelium niedergeschrieben habe, bestätigt, wenn man einzelne evangelische Stellen in Pauli Briefen, namentlich die Erzählung vom Abendmahle, mit den Parallelstellen des Lucas vergleicht, da sie hier fast wörtliche Uebereinstimmung gegen die Abweichungen der beiden ersten Evangelisten findet. Die wenigen Stellen, wo Lucas mit einem der beiden ersten Evangelisten wörtlich übereinstimmt, erklären sich daher, daß die Heidenapostel die griechische Uebersetzung, welche die Judenapo=

    *) Kenturiwn (15, 39. 44. 45.), wofür Josephus, Plutarch und die übrigen neutestamentlichen Schriftsteller immer ekatontarxoj haben. spekoulatwr (6, 27.), praitwrion (15, 16.), khnsoj (12, 14.), fragelloun (15, 15.), legewn (5, 9.), krabbatoj (2, 4.). Einige von diesen Wörtern kommen zwar auch bei andern neutestamentlichen Schriftstellern vor, aber keiner von diesen hat so viele als Marcus.
    **) Plutarch findet es noch nöthig, den Quadrans den Griechen zu erklären (vit. Ciceronis).


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stel schon zu der Zeit der Trennung begonnen hatten, der ihrigen zum Grunde legten.
    Aber noch wichtiger ist die Bestätigung, welche jene Sagen aus dem Inhalte der Evangelien erhalten.
    M a t t h ä u s  hat mehrere Stellen, die nur für palästinensische Judenchristen berechnet seyn konnten. Ganz in dem Sinne der spätern Nazaräer sind die Juden ihm das auserwählte Volk Gottes, auf welche sich Jesus anfangs allein beschränken wollte. Daher gebietet dieser den Jüngern, als er sie das Erstemal aussendet, nur den Juden zu predigen und nicht zu den Heiden zu gehen (Matth. 10, 5. 6.); darum erklärt dieser dem cananäischen Weibe, daß er nur für die verlornen Schaafe des Hauses Israel erschienen sey (Matth. 15, 21-28.); darum verheißt er den Jüngern als Lohn für ihre Ergebenheit, daß sie einst die 12 Stämme Israels richten würden (19, 28.). Aber auch Jesus drohete schon dem unglaubigen Israel, daß das Reich Gottes von ihm genommen werden und den Heiden gegeben werden sollte (Matth. 21, 43. cf. Matth. 8, 11.), wie dieß zu der Zeit, als Matthäus schrieb, durch Paulus und seine Gehülfen gewiß schon geschehen war. Daher ergießt sich auch Jesus bei dem Matthäus mehr als bei einem andern Evangelisten in bittere Vorwürfe und in starke Strafreden gegen die Pharisäer und Schriftgelehrte, welche vorzüglich das Volk verstockt, und demselben das ihm zugedachte Heil entzogen hatten. Ueberdieß mußte die Erinnerung an diese gerade in Palästina am nöthigsten seyn, um bei den ewigen Verfolgungen der Juden die Christen vor Rückfällen zum Judenthume zu sichern.


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    Marcus läßt in seinem Evangelio sowohl jene particularistischen Stellen als diese Strafreden weg. Jene wären unter Heidenchristen unpassend gewesen, in diesen hätte er nutzlos einer gemischten Gemeinde die Schande seiner Nation aufgedeckt. Weil er aber an die Stelle solcher Erzählungen keinen andern, die den besondern Bedürfnissen der Heiden entsprächen, zu setzen weiß; so gewinnt er in dogmatischer Hinsicht eine allgemeine Haltung, die er vergeblich durch seine Umständlichkeit in Hinzufügung einzelner Umstände zu verstecken sucht. So ungefähr mußte sich das Evangelium der Judenapostel gestalten, als sie außer ihrem gewohnten Kreise unter Heiden das Christenthum predigten.
    Lucä Evangelium hingegen beurkundet auch in dogmatischer Rücksicht seine Abhängigkeit von Paulus. Zuerst finden  d i e  u n i v e r s a l i st i s ch e n  I d e e n  desselben in diesem Evangelio auffallende Bestätigungen.
    Es verdient unstreitig Beachtung, wenn Lucas das Geschlechtsregister Jesu, welches Matthäus nur von Abraham an liefert, bis zu Gott, dem gemeinsamen Vater aller Menschen, hinanführt. Unter den Juden war es nur wichtig, die Abstammung Jesu von David und Abraham zu zeigen, um ihn als den Sohn des Gottes Abrahams, Isaacs und Jacobs predigen zu können (Act. 3, 13.); einem Pauliner hingegen, welcher den Heiden predigte, daß vor Gott kein Unterschied zwischen Beschneidung und Vorhaut sey (1 Cor. 7, 19. Gal. 5, 6.  6, 15.), daß durch Christus beide Theile durch den Glauben gerechtfertigt werden sollten (Röm. 3, 30.), mußte daran liegen, auch den Heiden zu zeigen, daß sie, gleich den


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Juden, mit Christo von einem Vater abstammten, gleich diesen dessen Brüder seyen.
    Lucas beginnt die Reihe der Thaten Jesu mit dem Auftritte desselben in Nazareth (4, 16-30.). Zwar haben auch Marcus (6, 1-6.) und Matthäus (13, 53-58.) diese Erzählung, gehen aber nicht weiter als zu der allgemeinen Bemerkung, daß ein Prophet nirgends weniger als in seinem Vaterlande geehrt werde. Lucas hat hier eigenthümliche Zusätze zur Erläuterung dieses Ausspruchs. Bei ihm erinnert Jesus noch an den Elias, der zur Zeit der Dürre keiner israelitischen Wittwe half, sondern der Phönicierin in Sarepta und an den Elisa, der die vielen Aussätzigen in Israel nicht heilte, sondern den Syrer Naemann. Jetzt wird selbst die Stelle, welche Lucas dieser Erzählung giebt, bedeutend, und es scheint, als ob er sie deshalb an die Spitze der Thaten Jesu gestellt habe, um durch sie prophetisch die Schicksale des Christenthums anzudeuten, das in seinem Vaterlande übel aufgenommen, und deshalb zu den Heiden gebracht wurde (Röm. 11, 11. 12.). Es braucht nicht erinnert zu werden, wie ermunternd es überdieß für Heiden seyn mußte, zu erfahren, daß sich schon ehemals Propheten vorzugsweise  i h r e r  angenommen hätten.
    Lucas hat zwar auch die Aussendung der zwölf Jünger (9, 1-6.), läßt aber nicht nur darin das Gebot, nur Juden zu predigen, aus, sondern erzählt darauf viel weitläufiger eine Auswahl und Aussendung von 70 Jüngern (10, 1-24.), auf welche er viele Züge überträgt, welche Matthäus und Marcus von der Aussendung der Zwölfe erzählen. Wenn die 12 Jünger Reprä=


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sentanten der 12 Stämme Israels waren *), so ist es am analogsten die  S i e b z i g  für die Repräsentanten der 70 Völker zu nehmen, welche nach der gewöhnlichen jüdischen und ältesten christlichen Meinung die Erde bewohnten **), und dann ist eine universellere Tendenz dieser Aussendung im Lucas unverkennbar. In der dem Lucas eigenthümlichen Weisung, welche Jesus diesen Siebzig giebt (10, 8.): esqiete ta paratiqemena umin (beinahe wörtlich gleich mit 1 Cor. 10, 27.: pan to paratiqemenon umin esqiete) darf man alsdann die evangelische Begründung der Paulinischen Lieblingsidee finden, daß die mosaischen Speisegesetze für den Christen nicht mehr verbindend sind.
    Eben so merkwürdig ist es zu beobachten, wie verschieden Matthäus und Lucas (denn Marcus erwähnt ihrer gar nicht) das Verhältniß Jesu zu den Samaritern, den Nichtjuden, mit denen er am meisten in Berührung kam, darstellen. Matthäus nennt sie nur da, wo Jesus

    *) Matth. 19, 28. Luc. 22, 28-30. Barnab. epist. c. 8. dekaduo eij marturion twn fulwn, oti dekaduo ai fulai tou Israhl.
    **) Tuf. Haarez, fol. 19 c. 3. Scias esse LXX principes, atque unicuique populo unum principem ex his LXX contigisse. - Recogn. Clem. II, 42. Deus - in LXXII partes divisit totius terrae nationes, eisque principes angelos statuit. cf. Cotelerium ad h. l. - So wie die Handschriften des Lucas zwischen 70 und 72 variiren, so wechselt auch die Angabe der Nationen. Epiphanius (haer. 51, 7.) hat 72 Jünger, die Jesus aussendet, aber er hat auch (l. I. c. 5.) 72 Stammväter der Völker und 72 Sprachen. - Uebrigens vergleicht auch der Verfasser der Schrift: de memorab. sacrae Script. 1 c. 9. (in opp. Augustin. T. 3.) die 72 Schüler ausdrücklich mit den 72 Sprachen, die von den 72 zur Erbauung des babilonischen Thurms versammelten Männern entsprungen wären.


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den Jüngern verbietet, in keiner Stadt der Samariter zu predigen (Matth. 10, 5.). Lucas gedenkt ihrer ehrenvoller und öfter. Auf einer Reise nach Jerusalem will Jesus - ganz gegen die Sitte der Juden - in einem samaritanischen Flecken herbergen (9, 52.), wird zwar abgewiesen, antwortet aber auf die Aufforderung der Jünger, Feuer vom Himmel fallen zu lassen, mit den schönen Worten: "des Menschen Sohn kam nicht, um Menschen zu verderben, sondern sie zu erretten." Kündigt sich Jesus in diesen Worten nicht auch als Heiland der Nichtjuden an? Ein anderesmal erläutert er den Umfang der Nächstenliebe durch die Parabel von dem barmherzigen Samariter, welcher dem Priester und Leviten vorgezogen wird (Luc. 10, 25.). Dann heilt er 10 Aussätzige, unter denen nur Einer, und  g e r a d e  d i e s e r,  ein Samariter, dankbar ist (17, 11-19.).
    Aber auch andere Paulinische Lieblingsideen finden in den eigenthümlichen Abschnitten des Evangeliums Lucä ausdrückliche Bestätigungen.
    Die Grundlage der Paulinischen Christologie, der Satz, daß die Erfüllung des Gesetzes nicht rechtfertigen und kein Recht zu Belohnungen geben kann, wird durch die Parabel von einem Sclaven erläutert (17, 7-10.), der, wenn er auch seine Pflicht gethan hat, doch keinen Anspruch auf Dank machen kann. Wie Paulus auf jenen Satz den Beweis gründet, daß man durch den Glauben an Christum Rechtfertigung vor Gott suchen müsse; so knüpft auch Lucas seine Erzählung an die Bitte der Jünger: "vermehre unsern Glauben."
    Nicht Wundergaben sind es, nach denen der Christ


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vorzüglich streben soll; diese Lehre, welche Paulus den Corinthiern (1 Cor. 13, 1. 2.) so sehr einschärft, wird auch vom Lucas (10, 20.) in den Worten angedeutet: "Freuet euch nicht, daß euch die Dämonen untergeordnet sind, sondern freuet euch, daß eure Namen im Himmel angeschrieben sind."
    Wie Paulus das uioj oder sperma Abraam oft tropisch von denen gebraucht, welche Abraham im Glauben ähnlich sind, im Gegensatze mit denen, die leiblich von ihm abstammen (Gal. 3, 7. oi ek pistewj outoi eisi uioi Abraam. Röm. 4, 16. Gal. 3, 29.); so sagt auch Jesus beim Lucas (19, 9.) zum Zacchäus, daß er jetzt, nach seinem ruhmwürdigen Entschlusse, ein uioj Abraam sey.

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§. 14.

A e l t e st e  a p o c r y p h i s ch e  E v a n g e l i e n.

    Aber außer den 3 ersten canon. Evangelien wurden aus derselben Evangelientradition auch andere Syngraphen geschöpft, die jetzt zum Theil ganz verloren gegangen, zum Theil nur noch aus kärglichen Nachrichten und Fragmenten bekannt sind. Da sie also mit jenen aus derselben Quelle flossen, so kann es nicht befremden, wenn sie denselben mehr oder weniger ähnlich waren. Als die katholische Kirche späterhin nur von 4 in die apostolischen Zeiten reichenden Evangelien hören wollte, gab ihr jene Aehnlichkeit einen um so scheinbaren Grund, die andern Evangelien, welche sie, besonders bei Ketzern, noch vorfand, für Corruptionen eines canonischen Evangeliums zu erklären, wie dieß oben schon gezeigt ist.


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    Wenn sie aber auch oft darin irrte, so hatte sie doch unstreitig Recht in der Behauptung, daß ihre Evangelien die ächte apostolische, die der Ketzer hingegen eine mehr oder weniger verfälschte paradosij enthielten. Dafür bürgen nicht nur alle historischen Zeugnisse, die bis in den Anfang des 2ten Jahrhunderts hinaufreichen, sondern auch der innere Charakter der Schriften selbst; wenn man den reinen, kräftigen Geist, der in diesen weht, mit dem mystischen Unsinne oder der Weitschweifigkeit und ermüdenden Ausführlichkeit jener nur oberflächlich vergleichen will. Es sind also nicht dogmatische Vorurtheile, sondern rein historische Gründe, nach denen wir verfahren, wenn wir die 3 ersten canon. Evangelien zum Grunde legen, um nach der Aehnlichkeit oder Unähnlichkeit mit ihnen, ohne aber dabei anderweitige Notizen zu übersehen, das Verhältniß der verschiedenen Apocryphen zur apostolischen Paradosis und darnach ungefähr ihr Alter auszumitteln.
    Nach den Nachrichten der Kirchenväter wurde die syrochaldäische Paradosis schon im apostolischen Zeitalter vom Matthäus und wahrscheinlich auch vom Bartholomäus niedergeschrieben. Die Aehnlichkeit dieser beiden Syngraphen, die so groß war, daß Spätere sie identificirten, hat nichts auffallendes, wenn man an die Aehnlichkeit des griechischen Matthäus und Marcus denkt. Bartholomäus und Matthäus waren beide Judenapostel, und trugen dieselbe Paradosis mündlich vor; ihre Syngraphen mußten sich also sehr ähnlich seyn.
    Die palästinensische Paradosis verbreitete sich außer Palästina vornehmlich noch über Aegypten, weil hier das


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Evangelium durch Judenapostel gepredigt wurde. So wie aber dieses sonderbare Land stets alles Fremde, was es nach der Bekanntschaft mit den Griechen nach und nach aufnahm, mit seinem eigenthümlichen Geiste durchströmte, und ihm gleichsam seinen characteristischen Stempel aufdrückte; so erlitt auch die evangelische Paradosis diese Veränderung, und wurde mit Mysticismus durchwebt. So theilte sich die palästinensische Paradosis schon früh in zwei Aeste, den  ä ch t  p a l ä st i n e n s i s ch e n  und den  ä g y p t i s ch e n.  Jener erhielt erst gegen das Ende des ersten Jahrhunderts die syrochaldäischen Syngraphen, die jetzt unter dem Namen der hebräischen Evangelien bekannt sind. Kirchlichen Gebrauch unter den hebräischen Christen erhielten dieselben aber wohl erst zu den Zeiten Hadrians, mit welchen die Spannung zwischen den Juden und Heidenchristen begann, wodurch eine heilige Schrift als Vereinigungspunct gegen diese nöthig wurde. An diese syrochaldäischen Syngraphen schlossen sich wahrscheinlich auch das Evangelium Justins, wenn es nicht geradezu eine von ihnen gewesen ist.
    Das ägyptische Evangelium wurde die Quelle der ketzerischen Syngraphen, von denen die des Cerinths, Carpocrates und Basilides noch immer so viel Aehnlichkeit mit der ursprünglichen Quelle der palästinensischen Paradosis behielten, daß sie für corrumpirte Evangelien des Matthäus gelten konnten. Auch mögen hebräische Evangelien bei ihnen benutzt seyn, wenigstens scheint dieß bei den Evangelien des Cerinths und kata Petron geschehen zu seyn, in welchen palästinensische und ägyptische Vorstellungen gemischt enthalten waren.


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    Das Evangelium des Cerdon und Marcion war eine Syngraphe der Paulinischen Paradosis, wahrscheinlich noch aus dem apostolischen Zeitalter.

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§. 15.

D a s  E v a n g e l i u m  J o h a n n i s.

    Wenn man es nicht unwahrscheinlich findet, daß in den ältesten Zeiten des Christenthums ein gewisser, obgleich nicht scharf begränzter Cyclus evangelischer Erzählungen in gleicher Form und gleichem Ausdrucke mündlich vorgetragen wurde; so wirft dieß auch ein helleres Licht auf die Abfassung des Evangelii Johannis.
    Schon in den alten Zeiten betrachtete man dasselbe als ein Supplement zu den drei ersten Evangelien, wie sich dieß in der Sage ausspricht, daß Johannes jene Evangelien geprüft und gebilligt und durch das seinige ergänzt habe *). Es fällt auch in die Augen, daß der Cyclus der Erzählungen des Evangelii Johannis, obgleich er oft an dem der drei ersten Evangelisten streift, doch in der Hauptsache ein ganz anderer ist; und eben so wenig läßt es sich läugnen, daß Johannes schon die Kenntniß eines andern Cyclus bei seinen Lesern voraussetzt, weil er sonst wohl nicht so wichtige Ereignisse (selbst die Stiftung des Abendmahls) unerwähnt gelassen haben könnte **). Auf der andern Seite können wir es aber nicht zugeben, daß Johannes zu unsern 3 ersten Evan=

    *) Clem. Alex. (ap. Euseb. h. e. VI,14). Euseb. h. e. III,24. Hieron. catal. script. c. 9. Epiphan. haer. 51. c. 6.
    **) H u g s  Einleit. Heft 1. S. 137. ff.


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gelien ein Supplement habe liefern wollen; da er sonst doch die Erzählungen ausgelassen haben würde, die er noch immer mit den erste Evangelisten gemein hat; gewiß aber die, wenn auch nur scheinbaren, Widersprüche gegen diese, die sich z. B. in den Erzählungen von der Berufung Petri, von der Speisung der 5000, von der Auferstehung u. a. finden, vermieden haben würde *).
    Diese Bemerkungen harmoniren vollkommen mit einander, wenn man annimmt, daß Johannes den allgemein verbreiteten Erzählungscyclus, den auch die drei ersten Evangelisten der Hauptsache nach enthalten, voraussetze, und zu diesem ein Supplement habe schreiben wollen. Dieß wird noch wahrscheinlicher, wenn man erwägt, daß, wenn er überhaupt Schriften über das Leben Jesu voraussetzte, er diese an den Stellen wohl erwähnt haben würde, wo er von den Thaten Jesu spricht, welche er in  s e i n e m  Buche nicht aufgezeichnet habe *).
    Es sind Spuren genug im N. T. vorhanden, aus denen man schließen kann, daß schon in jenen Zeiten der einfache erste Unterricht, der sich auf jenen Erzählungscyclus stützte, nicht mehr Allen genügte, und daß Manche anfingen, selbstständig den Lehren des Christenthums ein philosophischeres Gewand zu geben. Es waren dieß unstreitig Solche, die, in griechischen Schulen gebildet, die dort erkannten philosophischen Wahrheiten nach der Annahme des Christenthums nicht aufgeben, sondern mit

    *) J. A. L. W e g s ch e i d e r ' s  Einleitung in das Evang. des Johannes. Götting. 1806. S. 239-243.
    **) Joh. 20,30. 21,25. Vergl.  W e g s ch e i d.  a. B. S. 243.


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den Lehren desselben in Harmonie bringen wollten. Ein solches Amalgama zweier verschiedener Systeme ist stets gefährlich, besonders aber dann, wenn eine phantastische Philosophie, wie die damalige Zeitphilosophie es war, die Führerin ist. Wenn hier von Seiten der christlichen Lehrer nicht vorgebeugt wurde, so mußte die Reinheit der Lehre unter den kühnen Träumen allmählig zu Grunde gehen. Die prüfende und forschende Vernunft war aber nun einmal auf das Christenthum aufmerksam gemacht; ihre natürliche Frage war, wie sich die neue Lehre zu den Wahrheiten verhalte, welche von Philosophen bisher gelehrt seyen; durch Machtsprüche ließ sie sich nicht abweisen, aufgehalten konnte dieser Strom nicht werden, das mußte bald jenem erfahrenen Beobachter klar werden; man mußte suchen, ihm eine bessere Richtung zu geben. Aller christliche Unterricht stützte sich nun auf Erzählungen aus dem Leben Jesu; für den Elementarunterricht war zwar eine Auswahl getroffen, aber dieser Erzählungscyclus erschöpfte bei weitem noch nicht die bedeutenden Auftritte dieses reichen Lebens *), es war noch Stoff genug darin, um auch Anforderungen anderer Art zu genügen. Für die also, deren Bildungsgrad statt der Milch festere Speise **) bedurfte, traf der Lieblingsjünger Jesu eine neue Auswahl evangelischer Erzählungen,

    *) Ioh. 20,30. 21,25. esti de kai alla polla, osa epoihsen o Ihsouj, atina ean grafhtai kaq' en, oude auton oimai ton kosmon xwrhsai ta grafomena biblia.
    **) 1 Cor. 3, 1. 2. Hebr. 5, 14. Orig. praef. in Ioh. (III priores Evangelistae): majores perfectioresque de Iesu sermones reservant ei, qui supra pectus Iesu recubuit.


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bei der er jenen mündlichen Erzählungscyclus voraussetzte. Da dieser, wie auch Lucas in seinem Prologe dieß bemerkt, sich auf die Autorität  a l l e r  Apostel stützte; so macht Johannes am Ende seiner Schrift es bemerklich, daß seine Erzählungen zwar nur von ihm allein bezeugt würden, nichts destoweniger aber vollen Glauben verdienten **).
    In der spätern Sage wird dem Evangelio Johannis eine polemische Tendenz, anfangs nur gegen Nicolaiten und Cerinthianer ***), dann sogar auch gegen Valentinianer, Marcioniten +) und Ebioniten ++) beigelegt. Konnte nicht die aus jener Ansicht hervorgehende antithetisch didaktische Tendenz des Evangeliums in einem polemischen Zeitalter, wie das folgende war, leicht mit einem polemischen Zwecke, zu dem man sich selbst am geneigtesten fühlte, verwechselt werden?
    Aus dieser Annahme erklärt sich nun ohne Schwierigkeit das  V e r h ä l t n i ß  d e s  E v a n g e l i u m s  J o h a n n i s  z u  d e n  ü b r i g e n  d r e i e n,  wie sein  e i g e n e r  i n n e r e r  C h a r a c t e r.  Der mündliche Erzählungscyclus, welchen Johannes voraussetzte, war, wie dieß schon einigemal erinnert ist, nicht so scharf abgegränzt, daß nicht Johannes hin und wieder in sein Ge=

    *) h aggelia hn hkousate ap' arxhj. 1 Ioh. 3, 11. 2, 24. (cf. 2, 7. 2 Ioh. 5, 6.).
    **) Ioh. 21, 24. outoj estin o maqhthj, o marturwn peri toutwn, kai grayaj tauta : kai oidamen ote alhqhj estin h marturia autou.
    ***) Iren. III, 11.
    +) Philastr. haer. 45.
    ++) Epiph. haer. 51. c. 6. Hieron. catal. c. 9.


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biet hätte übergehen können. Daher hat derselbe sowohl einige Erzählungen mit unsern drei ersten Evangelien *), als mit den diesem parallel laufenden übrigen Syngraphen gemein, wie mit dem Evangelio der Hebräer die Geschichte des im Ehebruche ergriffenen Weibes **). Wahrscheinlich waren diese Erzählungen in dem Cyclus, der in Ephesus vorgetragen zu werden pflegte, allmählig verwischt, und daher erklärt es sich auch, daß Johannes sie unabhängig von der Einheit der Form, in der wir sie bei den ersten Evangelisten finden, vorträgt. Merkwürdig ist es aber, daß auch Johannes, trotz dieser Unabhängigkeit von jenem Typus doch  d i e  R e d e n  Anderer, die er mit den ersten Evangelien gemein hat, oft mit denselben Worten, welche diese gebrauchen, referirt ***). Ein neuer Beweis, wie treu die Apostel fremde Worte mittheilen, und wie sorgfältig sie insbesondere die Reden ihres Lehrers aufbewahrten.
    Was den  i n n e r n  C h a r a c t e r  des Evangelii betrifft, so verräth der Inhalt wie die Sprache desselben deutlich genug, daß es für philosophisch gebildete Christen geschrieben sey, und diesen auf eine ihrer Bildung angemessene Art eine richtige Ansicht vom Christenthume beibringen, auch  s i e  überzeugen soll, daß Christus Got=

    *) S ch u l z e,  der schriftstellerische Character und Werth des Johannes. Weißenfels und Leipzig, 1803. S. 129-187.
    **) Ioh. 8, 1-11. cf. Euseb. III, 39. - - i(storian peri gunaikoj epi pollaij amartiaij diablhqeishj epi tou Kuriou - to kaq' Ebraiouj euaggelion periexei.
    ***) Ioh. 12, 8. cf. Matth. 26, 11. - Ioh. 6, 20. cf. Matth. 14, 27. - Ioh. 12, 25. cf. Matth. 10, 39. - Ioh. 13, 20. cf. Matth. 10, 40. etc.


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tes Sohn sey *). Dieß geht aus dem eigenthümlichen dogmatisirenden Character des Evangeliums **) eben so hervor, wie es aus der Verbindung der Lieblingsterminologieen der damaligen Zeitphilosophie mit christlichen Ideen erhellt, daß Johannes von dieser einen Uebergang zum Christenthume bahnen wolle, wie Paulus ihn von dem agnwstoj qeoj in Athen zu dem allein wahren Gott macht.
    Dann ist aber auch die Sorgfalt des Apostels nicht zu verkennen, die Würde der Person und die Begebenheiten Jesu gegen historisch philosophische Zweifel zu sichern, die sich, sobald Gelehrte das Christenthum zum Gegenstande ihres Nachdenkens machten, mehr oder minder zu regen anfingen. Oft entwickelt er die Gründe für die göttliche Sendung Jesu, und giebt ihnen besonders dadurch eine anschauliche Kraft, daß er oft Andere es laut gestehen läßt, Jesus sey höheren Ursprungs (6,14. 69. 9,17. 11,27. 16,30.), und insbesondere, daß er Personen einführt, die gegen die  G e r ü ch t e  von Jesu ungläubig blieben, aber nach eigener Ansicht und Prüfung an Jesum glaubten (1, 46-49. 4, 19. 41. 42. cf. 39.).
    Dem Einwurfe, der in der Folge von allen heidnischen Bestreitern des Christenthums gemacht wurde, daß Christus nur gemeine und unwissende Menschen habe für sich gewinnen können, begegnet Johannes dadurch, daß er, so wie die 3 ersten Evangelien Jesum mehr unter dem

    *) Ioh. 20, 31.
    **) W e g s ch e i d e r  a. a. O. S. 203. ff.


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Volke handelnd und zu diesem redend darstellen, ihn mehr gegen die Gelehrten und Vornehmen siegend seine Würde erweisen läßt (3, 1-21. cf. 7, 50-52. 19,39 - 8, 12-19.). Aber auch die Frage mußte sich den Critikern aufdringen: Wie kam es denn, daß Jesus so wenig Anhang in Palästina fand, daß er sogar getödet wurde?
    Um ihr zu genügen, sucht er es ins Licht zu setzen, wie Nationalvorurtheile die Juden von Jesu abwandten, z. B. die Verachtung gegen Galiläa und Nazareth (1, 46.), die abergläubische Verehrung des Sabbaths, den Jesus nach ihrer Meinung gebrochen hatte (5, 16. 9, 16.), der Irrthum, daß einige Kennzeichen des Messias bei Jesu nicht eingetroffen wären (7, 27. 41. 42.), die zu hohe Meinung von Abraham, über dem Christus zu stehen behauptete (8, 58. 59.) u. s. w.  Vorzüglich aber zeigt er, wie die Pharisäer, die, obgleich ihnen der Glaube an Jesum gleichsam in die Hand gegeben wurde (9,13-34. 11,47.), doch aus Furcht vor den Römern (11, 48.) Drohungen und Ueberredungen kurz ihrem ganzen Einfluß anwandten, um das Volk von Jesu abzuziehen (7, 47. 48.  9, 22.  12, 42. etc. [?]).
    Insbesondere schien aber wohl der Kreuzestod Jesu den gelehrten Griechen unvereinbar mit seiner höhern Würde *). Johannes sucht es dagegen ins Licht zu setzen, warum Jesus, der demselben leicht hätte entgehen können, sich ganz freiwillig dazu entschloß. Er läßt ihn daher öfter, als die andern Evangelisten, seinen Tod (2, 19. 7, 33.  13, 33. etc. [?]) auch die Art seines Todes

    *) 1 Cor. 1, 23. Xristoj estaurwmenoj - - eqnesi mwria.


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(12, 32. 33.) und die Verrätherei des Judas (6, 64. 70.  13, 10. 11. etc. [?]) voraussagen, und bemerkt, wie das genaue Eintreffen dieser Weissagungen in der Folge dazu diente, den Glauben der Jünger zu erhöhen (2, 22.  13, 19.). Dann zeigt er, wie Jesus  g a n z  f r e i w i l l i g  sich dazu entschloß, sein Leben aufzuopfern (10, 18.), und läßt ihn die Gründe entwickeln, die ihn dazu bestimmten (12, 23. ff.  16, 7.  17, 4. ff.).
    Endlich aber ist es nicht zu verkennne, daß er die letzten großen Begebenheiten des Lebens Jesu durch Hinzufügung neuer Umstände gegen historische Skepsis sichern will. Um allen Zweifel über die Gewißheit des Todes Jesu zu heben, holt er den Umstand nach, daß seine Seite geöffnet, und daß alsdann Blut und Wasser ausgeströmt sey (19, 34. 35.), indem er sich dabei ausdrücklich auf Augenzeugen beruft. Eben so erzählt er, um die  k ö r p e r l i ch e  Auferstehung Jesu unwiderleglich darzuthun, den Vorfall mit Thomas, der von dem entschiedensten Unglauben durch sinnliche Ueberzeugung zurückgebracht wurde (20, 24-31.).
    Alles dieses dient also wohl zur Bestätigung der Meinung, daß dieß Evangelium für höher gebildete Christen ursprünglich bestimmt sey, wie sich dieß auch in den ihm oft beigelegten Prädicate eines euagg. pneumatikon im Gegensatze der übrigen swmatika ausspricht. Wie nun Paulus den nhpioij en Xristw nur Milch nicht feste Speise für dienlich erachtet, so scheint dieses Evangelium

    *) Clem Alex. ap. Euseb. 6, 14.  O r i g i n e s  nennt es praef. in Evang. Ioann.: thn aparxhn twn euaggeliwn.


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anfangs nicht im Volkunterrichte gebraucht zu seyn, für welchen der alte allgemein verbreitete Erzählungscyclus hinreichte. Daher die befremdenden Umstände, daß Ignatius und Polycarpus, Schüler des Apostels, dieses Evangelium nicht  n a m e n t l i ch  anführen; daß  G n o st i k e r,  V a l e n t i n u s  und  H e r a c l e o n  unsere ersten Zeugen für dieses Evangelium sind; daß aber dennoch die kleinasiatischen Presbyter nie die Aechtheit desselben läugneten.
    Daß ein solcher Unterschied zwischen biblischen Büchern den älteren Christen nicht fremd war, das zeigt Origenes, wenn er von dem Hohenliede urtheilt, daß dasselbe als "festere Speise" nur für reifere Christen passe *). Nach derselben Stelle enthielten auch die Juden, nach denen sich doch die christliche Kirchenverfassung größtentheils bildete, dem größeren ungebildeteren Haufen den Anfang der Genesis, den Anfang und das Ende des Ezechiel und das Hohelied vor.

    *) Orig. prolog. in cant. cant.: In verbis enim Cantici canticorum ille cibus est, de quo dicit Apostolus: Perfectorum autem est solidus cibus: et tales requiri auditores, qui pro possibilitate sumendi exercitatos habeant sensus ad discretionem boni et mali. - -

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Z w e i t e r  T h e i l.

Ueber den Gebrauch der schriftlichen Evangelien in der ersten Kirche, und der Canonisirung unserer vier Evangelien.

E i n l e i t u n g.

Unstreitig hängt die Untersuchung über den Gebrauch der schriftlichen Evangelien in der ersten Kirche mit der vorigen über ihre Entstehung aufs genaueste zusammen, und kann dazu dienen, dieselbe entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. Sprünge finden in der Geschichte nicht statt; wenn also oben über die Art der Fortpflanzung des Evangeliums in den apostolischen Zeiten, über die Absicht, welche die Evangelienschreiber bei ihren Syngraphen hatten, und über den Werth, der diesen in jenen Zeiten beigelegt wurde, gewisse Resultate angenommen sind; so müssen diese vornehmlich auch dadurch befestigt werden, daß gezeigt wird, wie jener Geist der apostolischen Zeiten mit dem der folgenden zusammenhieng, sich entweder noch länger forterhielt, oder durch Umstände eine andere Gestalt bekam. Es hat also diese Untersuchung außer ihrer eigenthümlichen historischen Bedeutung auch die, daß sie zugleich ein Prüfstein aller Hypothesen ist, welche man über die Entstehung der Evangelien aufgestellt hat.


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§. 1.

F r ü h e r e  U n t e r s u ch u n g e n  ü b e r  d i e s e n  G e g e n s t a n d.

Daß von dem apostolischen Zeitalter viele Syngraphen auf die folgenden Zeiten herabkamen, und daß aus der Menge dieser von der Kirche unsere 4 canon. Evangelien ausgewählt seyen, dieß ist schon vom Origenes *) und später von allen Unbefangenen behauptet. Aber wohl war man uneinig über die Zeit, wenn diese Auswahl geschehen sey.
    Alle frühern Theologen haben angenommen, daß unsere 4 Evangelien vom Anfange an in den Händen aller orthodoxen Christen gewesen und allein von ihnen gebraucht seyen, welche Meinung am neuesten von  S ch ü tz **) vertheidigt ist. Man folgte dabei gewöhnlich der Erzählung, die Eusebius als der erste mittheilt, daß der Canon der Evangelien von Johannes festgesetzt und der Kirche übergeben sey ***). Als Beweise dieser An=

    *) Orig. prooem. in Luc.  Et ut sciatis non solum quatuor evangelia sed plurima esse conscripta, e quibus haec quae habemus electa sunt et tradita ecclesiis, ex ipso prooemio Lucae - - cognoscamus etc.
    **)  D.  F.  S c h ü t z  de evangeliis quae ante evangelia canonica in usu eccl. Christ. fuisse dicuntur. dissert. 2. Regiomont. 1812.
    ***) Euseb. H. E. III, 24.  Hieron. prooem. comment. in Matth. - Catalog. c. 9. Polycrat. fragm. ap. Photium in bibl. cod. 254.


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sicht gebrauchte man zuerst die Stellen späterer Schriftsteller, wo dem frühesten christlichen Zeitalter der Gebrauch der vier Evangelien zugeschrieben wird. So erzählt Eusebius von den Evangelisten zu der Zeit Trajans, daß sie ihren Neubekehrten die Schrift der göttlichen Evangelien übergeben hätten *). Wie wenig indeß auf diese Aeußerungen späterer Schriftsteller zu geben ist, wird aus einer andern Stelle des Eusebius klar, wo derselbe sogar den Therapeuten in Aegypten, die er für Christen gehalten wissen will, den Gebrauch der heiligen Evangelien und der Schriften der Apostel beilegt. Er meint nämlich, daß die suggrammata palaiwn andrwn, welche dieselben nach Philo's Versicherung gebrauchten, dafür gehalten werden mußten **); uneingedenk, daß er kurz vorher den Referenten Philo mit Petrus in Rom sich unterreden läßt, und daß also unmöglich die  v o n  P h i l o  b e s ch r i e b e n e n  Therapeuten die Schriften der Apostel als  a l t e  Schriften gebrauchen konnten. Es wird aus diesem Beispiele wenigstens klar, wie leicht die

    *) Euseb. H. E. III, 37. thn twn qeiwn euaggeliwn para didonai grafhn.  Der Rec. von Schütz diss. in der A. L. Z. 1813. St. 106. S. 14. bezieht hier paradidonai auf mündliche Ueberlieferung und übersetzt: "das, was (jetzt) in den göttlichen Evangelien  g e s ch r i e b e n  ist, überbringen." Schwerlich möchte dieß in den Worten liegen; und daß die gewöhnliche Uebersetzung mit Eusebius historischen Ansichten über den Gebrauch der Evangelien sehr gut zusammenstimme, geht aus der folgenden Stelle hervor.
    **) Euseb. h. e. II, 17. taxa d' eikoj a fhsin arxaiwn par' autoij einai suggrammata, tate euaggelia kai taj twn apostolwn grafaj - - tauta einai.


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spätern kirchlichen Schriftsteller, die sich die Kirche und die kirchlichen Sitten als zu allen Zeiten durchaus gleichgeformt dachten, denen diese stete Gleichförmigkeit gerade der höchste Stolz und der Vorzug der catholischen Kirche vor allen Ketzerpartheien dünkte, wie leicht Solche frühern Zeiten den Character und die Sitten der ihrigen unterlegten, und wie wenig man ihnen also in solchen Fällen trauen kann.
    Einen andern Beweis für den Gebrauch der 4 Evangelien in der ältesten Kirche führte man aus den Schriftstellern derselben, den apostolischen Vätern und ihren nächsten Nachfolgern. Die evangelischen Citate in den Schriften derselben, für welche man gar keine Parallelstellen in unsern Evangelien fand, leitete man aus der Tradition oder aus Apocryphen ab; aber in den Uebrigen, welche mehr oder minder mit einzelnen Stellen unserer Evangelien übereinkommen, fand man eben so viele Beweise für den Gebrauch der canonischen Evangelien, und entschuldigte ihre Abweichungen in einzelnen Ausdrücken mit einem Citiren aus dem Gedächtnisse. Eben so benutzte man auch die Stellen jener Schriftsteller, wo des euaggelion Erwähnung geschieht, und bezog diesen Ausdruck auf  s ch r i f t l i ch e  Evangelien.
    Da die Schwäche dieser Beweise, mit denen man eben so gut auch dem Apostel Paulus unsere Evangelien aufdringen kann, von selbst einleuchtete, so fing man an, die Citate der apostolischen Väter aus verloren gegangenen apocryphischen Evangelien herzuleiten, und darauf die Behauptung zu gründen, daß vor unserm jetzigen


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Canon apocryphische Evangelien im Gebrauche der Kirche gewesen wären *).
    Die Beschaffenheit der Citate in den Schriften der apostolischen Väter wird durch diese Annahme vollkommen erklärt. Daß apocryphische Evangelien unsern canonischen oft höchst ähnlich waren, ist schon oben erörtert, und so können aus ihnen Stellen geflossen seyn, welche sich in unsern Evangelien in derselben oder in einer sehr ähnlichen Gestalt wiederfinden. Zugleich können sie auch viele Abschnitte, zu denen unsere Evangelien keine Parallelen liefern, enthalten haben. Außer dieser allgemeinen Möglichkeit hat diese Hypothese noch das bestimmte Zeugniß späterer Kirchenväter für sich, daß gewisse evangelische Citate bei den apostolischen Vätern, die in den canonischen Evangelien nicht enthalten sind, sich auch in apocryphischen Evangelien fänden. So fand  H i e r o n y m u s **) die Stelle des Ignatius (ad Smyrn. 3.): yhlafhsete me kai idete, oti ouk eimi daimonion aswmaton in dieser Gestalt nur im Evangelium der Hebräer; so war die Frage der Salome, wenn das messianische Reich erscheinen würde, mit der Antwort Jesu im 2. Briefe des Clemens Romanus C. 12. nach Clemens Alexandrinus ***) auch im Evangelio der Aegyptier enthalten. Endlich sagt  E u s e b i u s +) vom Papias, daß er Stellen aus dem Evangelio der Hebräer anführe.

    *)  R o s e n m ü l l e r  histor. interpretat. libr. sacr. P. I. pag. 231. cf. 155. -  E i ch h o r n ' s  Einleit. ins N. T. Th. 1. S. 140.
    **) Hieron. catalog. c. 16.
    ***) Clem. Alex. Strom. III. c. 13.
    +) Euseb. h. e. IV. c. 22 et III. c. 39.


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    So sehr indeß durch dieses alles die Vermuthung begünstigt wird , daß die ältesten Väter apocryphische Evangelien gebrauchten, so sind doch viele historische Schwierigkeiten nicht zu verkennen, welche derselben im Wege stehen. Man darf gleich im Anfange dreist fragen: Wenn die erste Kirche das Bedürfniß von Syngraphen fühlte, warum wandte sie sich nicht zu dem ächt apostolischen Nachlaß, sondern begnügte sich mit Schriften, in denen so vieles Alberne enthalten war? Mögen die apostolischen Evangelien anfangs immerhin nur für Wenige bestimmt, mag ihr erster Kreis noch so klein gewesen seyn; mit dem wachsenden Bedürfniß der Christenheit, schriftliche Beurkundungen von dem messianischen Leben Jesu zu haben, mußte sich auch der Kreis der Verehrer dieser Evangelien vergrößern, und im Kurzen durften sie der ganzen Kirche nicht mehr unbekannt seyn.
    Ferner: Wenn die verschiedenen Gemeinden verschiedene Syngraphen im kirchlichen Gebrauche hatten, so war doch für eine jede Gemeinde  d i e  Syngraphe, welche  s i e  angenommen hatte, die Erkenntnißquelle des Evangelii. Der Kirchenvater, der aus ihr citirte, stützte sich also auf  i h r e  Autorität. Nun begreift man aber nicht, wie er dieß in Briefen an andere Gemeinden konnte, die denn doch wieder andere Syngraphen gebrauchten, in welchen sich vielleicht Stellen, die er anführte, gar nicht oder doch in einer andern Gestalt fanden. Mußte er in diesem Falle doch nicht wenigstens über die Beschaffenheit und Aechtheit seiner Quelle etwas hinzusetzen? Wenn sich nun aber bei den apostolischen Vätern keine Spur von Furcht findet, daß die Glaubwürdigkeit


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ihrer ohne alle nähere Bezeichnung der Quelle aufgeführten evangelischen Stellen von den andern Gemeinden bezweifelt werden möchte; wenn sie diese Stellen ohne weitere Bekräftigung ihrer Aechtheit sogar als  B e w e i s e  für dogmatische Behauptungen gebrauchen konnten; so mußten sie sich auf eine allgemeiner anerkannte Autorität stillschweigend beziehen können, als die Syngraphe einer einzelnen Gemeinde es war. Eine solche allgemeine Autorität können wir aber in den frühesten Zeiten nur der allgemein verbreiteten mündlichen Tradition zugestehen.
    Endlich ist es bekannt, daß wir über die Einführung der vier Evangelien durchaus  g a r  k e i n e  historische Nachrichten haben - ein Umstand, der bei der Untersuchung ja nicht aus der Acht gelassen werden darf. Er beweist nämlich, daß die Einführung jener Schriften durchaus keine besondere Veränderung in der Kirchenverfassung hervorbrachte, weil eine solche schwerlich so ganz vergessen wäre. Wenn nun aber durch unsere 4 Evangelien andere, die durch früheren Gebrauch der Gemeinden doch gewohnt und deswegen lieb geworden seyn müssen, verdrängt waren, so darf man dreist behaupten, daß diese Veränderung hin und wieder Widerspruch finden mußte, uns schwerlich für uns so spurlos seyn könnte. Ein Beweis dafür sind die Unruhen, welche um das Jahr 200 (wie sich unten ergeben wird, lange nach Einführung unserer Evangelien bei dem größten Theile der Catholiker) in der Gemeinde von Rhossus in Cilicien wegen des Evangelium Petri entstanden, welches einige Gemeindeglieder gern beizubehalten wünsch=


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ten *). Es ist abermals deutlich, daß die Einführung der 4 Syngraphen dann am ersten ohne Geräusch vollzogen werden konnte, wenn dieselben an die Stelle einer mit ihnen übereinstimmenden mündlichen Tradition traten. Zuletzt stehen alle die Gründe, durch welche im Folgenden der ältesten Kirche der Gebrauch schriftlicher Evangelien abgesprochen wird, natürlich auch der Meinung entgegen, daß die älteste Kirche apocryphische Evangelien gebraucht habe.

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§. 2.

D i e  ä l t e st e  K i r ch e  g e b r a u ch t e  k e i n e  S y n g r a p h e n  d e s  E v a n g e l i u m s  a l s  k i r ch l i c h e  S ch r i f t e n,  s o n d e r n  b l i e b  b e i  d e r  m ü n d l i ch e n  T r a d i t i o n.

    Irenäus würde diese Behauptung, als die älteste christliche Kirche entehrend, noch nicht verwerfen. Er sagt ja selbst (adv. haer. III, 4.):
    "Wie, wenn die Apostel uns nicht einmal Schriften hinterlassen hätten, müßten wir dann nicht der Anordnung der Tradition folgen, welche sie denjenigen ertheilt haben, denen sie die Aufsicht über die Kirchen anvertrauten? Dieses wird von vielen barbarischen Völkern bestätigt, welche an Christum glauben, indem sie ohne Papier und Tinte die beseligende Lehre durch den Geist in ihre Herzen geschrieben haben, und die alte

    *) Euseb. H. E. IV. c. 12.


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Tradition sorgfältig bewahren etc." Und weiter unten: "diese, welche ohne eine Schrift zum Glauben gekommen sind, heißen nach unserm Ausdrucke Barbaren; ihren Meinungen, Gewohnheiten und Lebenswandel nach wandeln sie aber in aller Gerechtigkeit, Keuschheit und Weisheit. Wenn Jemand in ihrer eigenen Sprache ihnen das mittheilen wollte, was die Ketzer ersonnen haben, so würden sie ihre Ohren sogleich verschließen, so weit als möglich fliehen, um nur die gotteslästerliche Rede nicht anzuhören."
    Es folgt aus dieser Stelle:
    1. Irenäus, und man darf hier wohl sagen, die katholische Kirche seiner Zeit (denn der Häresimach wird selbst nichts häretisches behaupten) hielt dafür, daß die Orthodoxie nicht gefährdet seyn würde, wenn auch von den Aposteln keine Schriften herabgeerbt wären, sondern daß die apostolischen Schriften durch die Tradition ersetzt werden könnten. Denn die Barbaren, von denen er redet, waren in der Lage, daß für sie die apostolischen Schriften so gut als nicht geschrieben waren, und dennoch bewahrten sie die höchste Rechtgläubigkeit. Wenn also auch uns unsere Untersuchung dahin führt, daß in den ersten Zeiten des Christenthums keine Syngraphen im kirchlichen Gebrauche waren, so fehlte doch der ersten Kirche nach dem Urtheile des Irenäus nichts Nothwendiges und Wesentliches. Wenn aber Irenäus, der sonst die vier Evangelien so oft uns so stark empfiehlt, der jede Abweichung von der Lehre und der Sitte seiner Kirche so hart rügt, hier so milde ist: ist dann nicht die befriedigende Auflösung dieser räthselhaften Erscheinung


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das, freilich anderweit erst zu sichernde, Resultat, daß noch Irenäus die Kirche ohne Syngraphen gekannt habe?
    2. Mit geringerer Gewißheit, aber doch mit einiger Wahrscheinlichkeit läßt sich aus dieser Stelle schließen, daß zu der Zeit, wo jene barbarischen Völker bekehrt wurden, noch keine Syngraphen im kirchlichen Gebrauche waren. Würden nicht die Lehrer, welche diese Völker bekehrten, wenn sie heilige Schriften als Quelle ihres Glaubens betrachtet hätten, für Uebersetzungen derselben gesorgt und ihre Schüler zum Gebrauche dieser angeleitet haben? Wenigstens finden wir in spätern Zeiten nach der Bekehrung eines Volks bald einen Uebersetzer der heiligen Schriften.
    Um zur ferstern Gewißheit über diesen Gegenstand zu gelangen, sind zuerst  d i e  R e st e  d e s  f r ü h e st e n  ch r i st l i ch e n  Z e i t a l t e r s  zu prüfen, dann ist es aber auch, weil doch kein Zustand ohne alle Folgen verschwindet, zu untersuchen, ob sich nicht in  E r s ch e i n u n g e n  d e r  f o l g e n d e n  Z e i t  Spuren von der frühern Sitte auffinden lassen.
    Zu den Resten der frühern Zeit gehören zuerst  S a g e n,  die, obgleich erst von spätern Schriftstellern aufgezeichnet, doch durch ihren dem damaligen Zeitgeiste widersprechenden Character es beweisen, daß sie einer frühern Zeit angehören, dann aber auch die  S ch r i f t e n  d e r  a p o s t o l i s ch e n  V ä t e r.
    Unter den [sic] ersten scheint hierher vorzüglich die Erzählung zu gehören, die Clemens in seinen Hypotyposen (beim Euseb. 6, 14.) ausdrücklich als alte Tradition mittheilte, daß Petrus den Marcus bei Abfassung seines


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Evangelii weder verhindert noch aufgemuntert habe *). Eusebius hat die Stelle zwar nicht direct angeführt, sondern excerpirt sie in indirecter Construction; da er aber in dem ganzen Capitel nur Clemens Ansichten von den heiligen Büchern geben will, und auch jene Sage aus den Hypotyposen excerpirt zu haben, ausdrücklich versichert, so kann kein Zweifel darüber seyn, daß sie vom Clemens wirklich erzählt ist. Diesem widerspricht auch die Stelle des Eusebius 2, 15. nicht, wo Eusebius  s e l b st  die ihm für die wahrscheinlichsten geltenden Sagen über den Ursprung des Evangelii Marci zusammenstellt, und erzählt, Petrus habe sich über den Eifer der Römer, welche den Marcus um jene Schrift baten, gefreut und dieselbe zum kirchlichen Gebrauche bestätigt. Obgleich hier Clemens und Papias  h i n t e r h e r  als Gewährsmänner genannt werden, so sieht man doch leicht, daß sie nur für die Hauptsache - dem Petrinischen Ursprung des Evangelii Marci - haften sollen **), daß Eusebius hier nicht die verschiedenen Relationen der Nebenumstände kritisch untersuchen will, sondern diejenigen auswählt, die ihm die Wahrscheinlichsten dünkten, d. h. mit seinen übrigen Ansichten am meisten übereinstimmten.
    Daß Clemens in der ersten Stelle den angeführten Nebenumstand aus einer alten Sage geschöpft habe, versichert Eusebius ausdrücklich ***), und die Natur der

    *) oper epignonta ton Petron, protreptikwj mhte kwlusai mhte protreyasqai.
    **) cf.  L a r d n e r ' s  Glaubw. der evangel. Gesch. Th. 2. Bd. 1. S. 193-195. bes. S. 393.
    ***) Euseb. l. c. paradwsw twn anekaqen presbuterwn teqei-


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Sache bestätigt es deutlich genug. Denn zu Clemens Zeiten erdichtete man schwerlich dergleichen Nachrichten, die das apostolische Ansehen eines Evangelii schwächen konnten. Wenn wir nun die Wahrheit der Sage auf sich beruhen lassen, und aus ihr nur die Denkungsart des Zeitalters bestimmen wollen, in welchem sie entstand, so ist der Schluß einleuchtend, daß das Zeitalter, welches einem Apostel Gleichgültigkeit bei der Abfassung eines Evangelii, das  a u s  s e i n e n  e i g e n e n  V o r t r ä g e n  erwuchs, zuschreiben konnte, von allen schriftlichen Evangelien wenig enthalten mußte. Sonst bliebe es unerklärlich, wie das Evangelium durch die Sage nicht mehr geehrt wäre, das nach Aller Geständnisse  a u s  P e t r i  M u n d e  verkündet war. Wirklich giebt sich der Geist der folgenden Zeit auch in der Umgestaltung dieser Sage kund. Als man nämlich nach der Canonisation der 4 Evangelien das Mißverhältniß dieser Sage zu dem canonischen Ansehen Marci bemerkte, wurde dieselbe in den Gegensatz abgeändert, daß Petrus Marci Evangelium gebilligt und den Kirchen übergeben habe, wie Eusebius selbst in der zweiten angeführten Stelle erzählt. Spätere wollten sogar die so eben behandelte Stelle dieser Ansicht gemäß umformen, und setzten an den Platz der vorhin ausgehobenen Worte aus 2, 15. den Satz: ton Petron aurwsai kai protreyasqai eij enteucin autou, wenn diese Aenderung anders nicht erst eine Conjectur von Christopherson ist.

tai. d. i. eine Tradition, welche von den ältesten Presbytern her durch die Reihe der Presbyter überliefert ist.


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    So wäre also diese Sage ein Product einer frühern Zeit, wo man die Syngraphen des apostolischen Zeitalters noch nicht als heilige Schriften und Erkenntnißquellen des Glaubens ehrte. Eine heterogene Nachwelt pflanzte sie als einen ehrwürdigen Rest des Althertums anfangs arglos fort (so schrieb Clemens sie noch nieder); bis man endlich den Contrast zwischen ihr und den übrigen Zeitansichten bemerkte und denselben durch Aenderung der Sage hob. Beiläufig finde hier die Bemerkung ihren Platz, daß man durch solche Würdigung jener Sage einen neuen, und vielleicht, nächst Papias directem Zeugnisse, den festesten Grund für die Authentie des Evangeliums Marci erhält. Denn jene Sage setzt diese stillschweigend voraus; stammt jene aus einem Zeitalter, wo das Urtheil durch die Verehrung der Evangelien als heilige Schriften noch nicht befangen wurde, so wird das mit ihr verbundene Zeugniß dadurch um so unverdächtiger.
    Wenn wir die Schriften des auf das Apostolische zunächst folgenden Zeitalters in Rücksicht auf den Gebrauch heiliger Schriften zu prüfen anfangen, so finden wir, daß die ältesten Schriftsteller, Barnabas und Clemens, eben so wie die Apostel in ihren Briefen, weit mehr Stellen aus dem Alten Testamente, als aus dem Evangelio anführen, daß Ignatius ungefähr beides gleichviel, Polycarp aber öfter das Evangelium als das Alte Testament citirt, während Hermas durch den Inhalt seiner Schrift zu keiner Art von Citat veranlaßt wird *).

    *)  L a r d n e r s  Glaubwürdigk. der evangel. Geschichte, übers. v. Bruhe. Th. 2. Bd. 1. S. 176. 177.


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Was die Form der Citate betrifft, so werden Stellen des A. T. zwar oft nur durch die allgemeinen Formeln h grafh legei, o profhthj legei, legei o kurioj en tw profhth, gegraptai, aber auch zuweilen durch die genauern Bezeichnungen Mwushj, Dabid legei allegirt. Von den Paulinischen Briefen werden nur die namentlich erwähnt, welche an die Gemeinden gerichtet sind, an welche auch der Kirchenvater schrieb *). Aber die evangelischen Citate werden ohne Ausnahme mit den Formeln o kurioj legei, o Xristoj legei citirt, ohne daß je eine vermittelnde Schrift genannt wird **). Niemand wird in Abrede seyn, daß diese allgemeine Bemerkung vorläufig zu der Annahme geneigt mache, die apostolischen Väter citiren hier nicht aus einer Schrift, sondern aus der Tradition. Man erwäge, daß nach der Meinung jenes Zeitalters, wie schon der Ausdruck legei o kurioj en th grafh es lehrt, Christus die redende Person auch in den Weissagungen des A. T. war, daß aber dennoch oft allgemeiner oft genauer von den apostolischen Vätern bei

    **)[sic] Clem. Rom. epist. I. ad Cor. c. 47. citirt Pauli Brief an die Corinthier, wie Ignat. ep. ad Ephes. c. 12. den an die Epheser und Polycarp. ep. ad Philipp. c. 3. den an die Philipper.
    ***)[sic] Nur zwei Stellen könnten dagegen genannt werden. Die Eine (Clem. Rom. ep. 2. c. 2. etera gar grafh legei, womit Matth. 9, 13. citirt wird) entscheidet nichts, wenn man an das jüngere Alter dieses Briefs denkt. Die Andere (Barn. epist. c. 4. attendamus ergo, ne forte, sicut scriptum est, multi vocati pauci electi inveniamur) wird durch den Umstand verdächtig, daß sie sich blos in der latein. Version findet. Uebrigens ließe es sich aber auch wohl denken, daß Barnabas diesen proverbiellen Ausspruch Jesu, der als solcher zweimal beim Matthäus (20, 16. 22, 14.) vorkommt, mit einer Stelle des A. T. verwechselt habe.


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alttestamentlichen Citaten die vermittelnde Schrift bezeichnet wird, so muß man bei den evangelischen Citaten, wenn sich anders die Kenntniß jener Männer vom Leben Jesu auf eine Syngraphe stützte, um so mehr die Anführung der Gewähr leistenden Schrift erwarten, als die Messianität Jesu, diese Grundsäule des ganzen Christenthums, aus seiner Geschichte zu erweisen war, und die Christen sich hier also am ersten daran gewöhnen mußten, die Quelle genauer zu citiren, die ihnen die glaubwürdigste und sicherste schien. In dieser Rücksicht würde jene Citationsart nur durch die Annahme hinlänglich erklärt, daß trotz der vielen Syngraphen, die aus dem apostolischen Zeitalter auf das folgende vererbt waren, die gewisseste Quelle des Evangeliums die Tradition oder das lebendige Zeugniß der von den Aposteln unterrichteten Lehrer gewesen sey.
    Man hat die Stellen der apostolischen Väter, wo das euaggelion mit den Schriften des A. T. zusammengestellt ist *), als Beweise gebraucht, daß unter demselben ebenfalls eine  S ch r i f t  verstanden werde. Wie schwach dieser Grund sey, leuchtet schon aus der zuerst angeführten Stelle hervor, wo nach derselben Argumentation die paqhmata auch Schriften, etwa Martyrologieen, seyn müßten.

    *) Ignat. ad Smyrn. 5.  ouj ouk epeisan ai profhteiai oud' o nomoj Mwusewj, all' oude mexri nun to euaggelion, oude ta hmetera twn kat' andra paqhmata.  Ibid. 7. prosexein de toij profhtaij, ecairetwj de tw euaggeliw, en w to paqoj hmin dedhlwtai, kai h anastasij teteleiwtai.


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    Man bedenke, daß sich daß [sic] Evangelium schon bei seiner ersten Verkündigung (wo also an eine Niederschreibung desselben noch nicht zu denken war) auf die Schriften der Propheten stützte, und als deren Erfüllung auftrat; daß also die Zusammenstellung des A. T. als des Inbegriffs der Typen und Weissagungen von Christo, mit dem Evangelio, als der Vollendung und Erfüllung derselben *), ganz unabhängig davon ist, ob das Letzte niedergeschrieben ist, oder nicht. Deshalb kann aus dieser Zusammenstellung nichts für und nichts gegen den Gebrauch einer Syngraphe gefolgert werden.
    Eben so wenig scheint die so oft für das frühe Daseyn einer doppelten Sammlung neutestamentlicher Schriften, unter den Namen to euaggelion und o apostoloj, beigebrachte Stelle des Ignatius **) das zu beweisen, was durch sie bewiesen werden soll. Es ist eine bei dem Ignatius und andern gleichzeitigen Schriftstellern oft vorkommende Idee, daß Jesus und die Apostel das der ganzen Kirche seyen, was der Bischof und die Presbyter den einzelnen Kirchen sind, der Mittel= und Vereinigungspunct aller wahren Christen. So wie Jesus Bischof der ganzen Kirche und die Apostel Presbyter derselben sind,

    *) So auch Ignat. ad Philadelph. 9. oi gar agaphtoi profhtai kathggeilan eij auton: to de euaggelion apartisma estin afqarsiaj.
    **) Ignat. ad Philadelph. 5.  prosfugwn tw euaggeliw wj sarki Ihsou, kai toij apostoloij wj presbuteriw ekklhsiaj kai touj profhtaj de agapwmen, dia to kai autouj eij to euaggelion kathggelkenai k. t. l.


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so steht in der einzelnen Gemeinde der Bischof an Jesu *), die Presbyter an der Apostel **) Stelle.
    Da nun in der vorliegenden Stelle ebenfalls von den Aposteln, als dem Presbyterio der Kirche, die Rede ist, so ist es consequent, nach der Analogie der oben beigebrachten Stellen auch hier an die Personen der Apostel, und nicht an die Schriften  E i n i g e r  von ihnen zu denken. Damit fällt aber ebenfalls der besondere Grund weg, weshalb man auch unter to euaggelion eine Schrift verstehen wollte. Als erläuternde Parallelstelle kann hier Trall. 7. benutzt werden, wo auf eben die Art Jesus Christus, der Bischof und  d i e  V e r o r d n u n g e n  d e r  A p o st e l  zusammengestellt sind.
    Das Resultat dieser Untersuchung ist also, daß sich keine Stelle im Ignatius nachweisen läßt, wo to euaggelion ein geschriebenes Evangelium bedeuten muß, und daß es bei ihm nur in der allgemeinen Bedeutung steht, in der es auch noch bei spätern Schriftstellern ***) zuweilen vorkommt: "Inbegriff des ganzen messianischen Lebens und Wirkens Jesu."
    Die bis jetzt entwickelten Gründe, aus denen hervorgeht, daß von den apostolischen Vätern nirgends

    *) Ignat. ad Eph. c. 6. ton oun episkopon dhlon, oti wj auton ton kurion dei prosblepein.
    **) Id. ad Magnes. c. 6. prokaqhmenou episkopou eij topon qeou kai twn presbuterwn eij topon sunedriou twn apostolwn. cf. ad Trall. 2. 3.  Smyrn. 8.  Constit. Apost. II. c. 28.
    ***) cf. Iren. 3, 14. Si autem quis refutet et Lucam quasi non cognoverit veritatem, manifestus erit projiciens Evangelium - - Plurima enim et magis necessaria Evangelii per hunc cognovimus u. a. a. O.


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deutlich eine Syngraphe des Evangeliums citirt werde, erhalten aber ihr volles Gewicht erst dadurch, daß Stellen nachgewiesen werden, wo dieselben durchaus hätten Syngraphen erwähnen müssen, wenn diese in kirchlichem Ansehen gestanden hätten.
    Der Hauptzweck des dogmatischen Theiles im Briefe des Barnabas geht dahin, zu erweisen, daß das mosaische Gesetz die Christen nicht mehr verpflichte. Die Beweise dafür werden fast nur durch allegorisch interpretirte Stellen des A. T. geführt. Anstatt auf Syngraphen des Evangeliums zu verweisen, und dadurch darzuthun, daß auch Jesus so gelehrt habe, verweist er auf die vollkommneren Christen, die das empfangene Wort in ihrem Herzen sorgfältig bewahren, die von den Gesetzen des Herrn reden und sie bewahren, die das Wort des Herrn gleichsam wiederkäuen *). Wenn man neben solchen Stellen, welche als Erkenntnißquelle der christlichen Lehre blos mündlichen Unterricht angeben, die Erwähnung von schriftlichen Urkunden derselben ganz vermißt, so muß die Vermuthung wachsen, daß in jener Zeit keine Schriften als heilige Urkunden betrachtet sind.
    In dem ersten Briefe des Clemens (C. 42.) wird folgende Uebersicht von der Reihenfolge gegeben, durch welche das Evangelium herabgekommen sey: "Von Gott empfing es Jesus, von Jesu die Apostel. Diese ver=

    *) Barnab. epist. c. 10.  ti oun legei; kollasqai meta twn foboumenwn ton kurion, meta twn meletwntwn, o elabon, diastalma rhmatoj, en th kardia, meta twn lalountwn ta dikaiwmata kuriou, kai thrountwn - - - kai marukwmenwn ton logon kuriou.  cf. c. 19.


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kündeten es in Ländern und Städten, und setzten die ältesten und bewährtesten Christen zu Bischöfen und Diaconen der künftigen Gläubigen ein." Waren die schriftlichen Evangelien schon in diesem Zeitalter wichtig, so konnte ihre Erwähnung hier so wenig fehlen, wie sie in demselben Zusammenhange beim Irenäus (adv. haer. III, 1.) fehlt. Aber Clemens läßt die Apostel noch nicht durch Syngraphen, sondern durch Ansetzung von Bischöfen und Diaconen für die Nachwelt (touj mellontaj pisteuein) sorgen. Durch diese sollte also das Evangelium fortgepflanzt und erhalten werden. Eben so ist auch die Verschiedenheit der Ausdrücke zu berücksichtigen, mit denen er das A. T. und die Aussprüche Jesu dicht nebeneinander anführt. Da, wo er das A. T. empfiehlt, sagt er: "Lehrt fleißig die heiligen Schriften, die wahren Aussprüche des heiligen Geistes;" wenn er Achtung gegen die Gebote Jesu fordert, drückt er sich so aus: "Erinnert euch an die Vorschriften Jesu unsers Herrn *)." Woher diese Verschiedenheit der Ausdrücke, wenn sie nicht darin ihren Grund hatte, daß das Evangelium nicht wie das Alte Testament eine heilige Schrift war?
    Noch deutlicher wird die Sache durch die Briefe des Ignatius. Wir fangen die Untersuchung über dieselben mit der bekannten Stelle des Briefes an die Phila=

    *) Clem. Rom. ep. I. c. 45.  egkuptete eij taj grafaj, taj alhqeij rhseij pneumatoj tou agiou. - cf. c. 46. mnhsqhte twn logwn Ihsou tou Kuriou hmwn.
        C. 13. poihsamen to gegrammenon: legei gar to pneuma to agion.  So wird Jer. 9, 23. citirt. Dagegen folgen Aussprüche Jesu gleich darauf mit der Citationsformel: malista memnhmenoi twn logwn tou kuriou Ihsou, ouj elalhsen - - outwj gar eipen:


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delphier C. 8. an, die wir hier nach beiden Recensionen folgen lassen:
 
R e c.  1.
hkousa gar tinwn legontwn, oti, ean mh en toij  a r x a i o i j  eurw, en tw euaggeliw ou pisteuw: kai legontoj mou autoij, oti gegraptai:  apekriqhsan moi, oti prokeitai:
emoi de  a r x e i a  estin Ihsouj Xristoj: ta aqhkta  a r x e i a  o stauroj autou, kai o qanatoj, kai h anastasij autou, kai h pistij h di' autou, en oij qelw en th proseuxh umwn dikaiwqhnai.
R e c.  2.
hkousa gar tinwn legontwn, oti, ean mh en toij  a r x e i o i j  eurw to euaggelion, ou pisteuw toij de toioutoij,
      egw legw,
oti emoi  a r x e i a  estin Ihsouj o Xristoj, ou parakousai prodhloj oleqroj auqentikon moi estin  a r x e i o n  o stauroj autou, kai o qanatoj, kai h anastasij autou, kai h pistij h peri toutwn: en oij qelw en th projeuxh [sic] umwn dikaiwqhnai.

    Die zweite Rec. setzt hinzu: O apistwn tw euaggeliw, pasin omou apistei: ou gar prokrinetai ta arxeia tou pneumatoj. Sklhron to proj kentra laktizein, sklhron to Xristw apistein, sklhron to aqetein to khrugma twn Apostolwn.
    Die meisten Historiker, die diese Stelle gebrauchen, lesen aus historisch=dogmatischen Rücksichten arxaia, obgleich die äußern Gründe für arxeia überwiegend sind, weshalb auch Vossius und Cotelerius die letzte Lesart vorziehen. Die zweite Rec. hat durchgängig arxeia, die


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erste zweimal arxeia und nur einmal arxaia. Wenn man überdieß erwägt, daß das bekanntere Wort dem unbekannteren von Abschreibern leichter substituirt werden konnte, als umgekehrt; so wie nach der Note des Cotelerius sich wirklich in einigen Stellen anderer Schriftsteller arxaia anstatt arxeia geschrieben findet; so wird man geneigter, die eine Stelle nach den fünf übrigen, als diese nach jener zu corrigiren. Dazu kommt, daß arxeia unläugbar besser in den Context paßt, als arxaia. Diejenigen, welche arxaia lesen, übersetzen die Stelle mit Clericus *) auf folgende Weise:
    "Wenn ich es nicht in alten Weissagungen finde, so glaube ich nicht ans Evangelium."
    Diese Forderung muß an sich schon auffallen. Denn diejenigen, welche die Weissagungen des A. T. überhaupt für ächt hielten, konnten wahrlich nicht über den Mangel an Weissagungen klagen; und ein Zweifel an der Aechtheit derselben drückt sich doch in der Stelle nicht aus. Noch befremdender ist aber dann die Antwort des Ignatius. Er, der an andern Stellen es so stark urgirt, daß das Evangelium eine Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen sey, sollte durch eine Antwort, die dieß ganz übergeht, stillschweigend die Unzulänglichkeit der Weissagungen zugegeben haben?
    Dagegen ist die Stelle deutlich und zusammenhängend, wenn man der andern Lesart folgt. Die Art, wie die Lebensgeschichte Jesu auf die Nachwelt fortgepflanzt war, hatte zwar moralische Glaubwürdigkeit, wenn

    *) Cleric. hist. eccl. 116. et not. ad h. l. in edit. Patr. Apost. ed. 1724.


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man auf die Uebereinstimmung der Christen in den verschiedensten Gegenden und den Character der Lehrer sah; allein strenger erwiesen wäre doch dem kalten Critiker ihre Wahrheit gewesen, wenn von  u n p a r t h e i i s ch e n  Augenzeugen ein unbezweifelbares Document hinterlassen und in Archiven aufbewahrt wäre, welches jene Erzählungen bestätigte. Dieser Wunsch der historischen Critik mußte sich regen, sobald gelehrt gebildete Heiden zum Christenthume übergetreten waren. Einen historischen Beweis dafür liefert die Existenz der Acta Pilati, die schon Justin in seiner ersten Apologie erwähnt, welche offenbar einer solchen Forderung, wie die oben angedeutete ist, genügen, und Heidenchristen eben so das Evangelium bekräftigen sollten, wie die sibyllinischen Weissagungen berechnet waren, bei denselben den alttestamentlichen Weissagungen ein höheres Gewicht zu geben *).
    So hörte also auch Ignatius von Einigen den Zweifel:
    "Wenn ich die Erzählungen des Evangelii nicht durch archivalische Zeugnisse bestätigt finde, so kann ich sie nicht glauben."
Jetzt müßte er unstreitig das anführen, was  i h m  die Wahrheit der evangelischen Nachrichten verbürgte, und wenn die Syngraphen des apostolischen Zeitalters wirklich im allgemeinen Ansehen waren, so mußte er sie hier

    *) Iustin. Mart. ad Graec. cohort. p. 34. estai de umin radiwj thn orqhn qeosebeian ek merouj para thj palaiaj Sibullhj ek tinoj dunathj epipnoiaj dia xrhsmwn umaj didaskoushj, manqanein tauq'  a( p e r  e g g u j  e i n a i  d o k e i  t h j  t w n  p r o f h t w n  d i d a s k a l i a j.


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vorzugsweise nennen. Es scheint, als ob er auf sie in der ersten Rec. anspiele, wenn er sagt: "es ist (von Gleichzeitigen) niedergeschrieben;" so unverständlich aber auch die Antwort des Ungläubigen ist (oti prokeitai vielleicht "das Unzureichende liegt am Tage," oder nach Vossius Vermuthung ou prok. "ihre Glaubwürdigkeit ist ungewiß"), so sieht man doch aus der Kürze, womit Ignatius dieß übergeht, daß er kein Gewicht auf Syngraphen legt, und weder aus ihnen sich vom Evangelio unterrichtet hat, noch seine Ueberzeugung von der Wahrheit desselben auf sie stützt. Ihm gelten höher als alle Archive Jesus Christus selbst, sein Kreuz, sein Tod, seine Auferstehung und der Glaube an diese Ereignisse. Die zweite Rec. setzt hinzu, daß der, welcher dem Evangelio nicht glaube, nichts glauben könne, daß das Zeugniß des Geistes höher zu achten sey als alle Archive, und läßt dann die Ausrufung folgen: "Es hat etwas auf sich, Christo nicht glauben zu wollen, und die Predigt der Apostel zu verachten!" Die Ueberzeugung von der Wahrheit des Evangelii ist also im Ignatius so lebendig, daß er an keinen Zweifel denken kann. Sie macht ihm jeden äußern Beweis überflüssig, dient ihm statt aller Archive, und deswegen weiß er auch dem fremden Zweifel nichts anders entgegenzusetzen, als eben seine feste Ueberzeugung, in demselben Sinne, in welchem Papias am Schlusse seiner fünf Bücher "Erklärungen der Aussprüche des Herrn" hinzusetzte: "Dieß ist den Glaubenden glaublich *)."

    *) Iren. 5, 33.  Et adjecit, dicens: Haec autem credibilis sunt credentibus.


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Hätte sich jene Ueberzeugung auf eine Schrift gestützt, so hätte diese genannt, und ihre Aechtheit und Glaubwürdigkeit erwiesen werden müssen. Daß dieß nicht geschieht, daß Ignatius so unbegreiflich für seine Ueberzeugung keinen andern Grund anzugeben weiß, als diese selbst; dieß läßt sich nur aus der Eigenthümlichkeit eines Zeitalters erklären, welches die Kenntniß des Evangelii nicht aus Schriften, sondern aus dem lebendigen Vortrage der Lehrer schöpfte. Durch diesen wurden die Begebenheiten des Lebens Jesu stärker vergegenwärtigt, als es durch das Lesen eines Geschichtsbuches möglich war. Christus selbst redete durch den Mund des Lehrers, der seine Aussprüche vortrug *), er war der einzige Lehrer der Christen **), er selbst verbürgte also die Wahrheit seiner Geschichte, und war stärkerer Bürge als alle Archive. So lebten also Jesus und sein Evangelium in den Herzen der Christen gleichsam noch fort ***), einen andern Beweis für die Wahrheit seines Glaubens kannte dieses einfache Zeitalter noch nicht.
    Aber auch außer dieser Stelle wird Ignatius, besonders durch die Behauptungen der Doceten, oft in seinen Briefen genöthigt, die Wahrheit der evangelischen Geschichte zu behaupten, und obgleich er alle seine Kräfte zum Erweise derselben aufbietet, so beruft er sich doch nie

    *) Ignat. ad Ephes. 6.  oude akouete tinoj pleon eiper Ihsou Xristou lalountoj en alhqeia.
    **) Id. ad Magn. 9. o monoj didaskaloj hmwn.
    ***) Daher die oft vorkommende Benennung der Christen Xristoforoi, welche Ignat. ad Eph. 9. erklärt durch: kata panta kekosmhmenoi entolaij Ihs. Xr.


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auf die Schrift eines Augenzeugen, was doch hier den meisten Erfolg hätte haben müssen.
    Beinahe in allen seinen Briefen tadelt er bitter die Anderslehrenden, die sich einen Anschein von Glaubwürdigkeit (wahrscheinlich wie die spätern Ketzer, durch Berufung auf ihre Lehrer, Schüler der Apostel) gäben *), da doch nur die wahren Christen mit den Aposteln übereinstimmten **), die Lehre der Ketzer aber diesen entgegen wäre ***). Er klagt, daß jene gleich Wölfen die Schaafe der Kirche wegraubten +), indem sie behaupteten, Jesus hätte nur scheinbar gelitten ++). Er droht, daß der, welcher mit solcher gottlosen Lehre den Glauben verderbe, für welchen Christus gekreuzigt sey, wie derjenige, der einem solchen Glauben beimesse, dafür einst in das unverlöschbare Feuer geworfen werde +++). Denn er läugne ja den Tod Jesu, auf welches Mysterium sich der Glaube der Christen stütze ++++).
    Es ist indeß dem Ignatius in seinen Briefen nicht

    *) Ignat. ad Polyc. 3.  oi dokountej aciopistoi einai, kai eterodidaskalountej.
    **) ad Eph. 11.  oi kai toij apostoloij pantote sunh|nesan.
    ***) Sie ist gnwmh allotria, die Ketzer sxizontej (ad Philad. 3.), eterodocountej eij thn xarin Ihs. Xr. thn eij hmaj elqousan, enantioi th| gnwmh| tou qeou (Smyrn. 6.).
    +) lukoi aciopistoi (ad Philad. 2.).
    ++) to dokein auton peponqenai (Smyrn. 2.).
    +++) Eph. 16.  ean (tij) pistin qeou en kakh| didaskalia| fqeirh|, uper h(j Ihs. Xr. estaurwqh, o toioutoj ruparoj genomenoj eij to pur to asbeston xwrhsei, omoiwj kai akouwn autou.
    ++++) Magn. 9.  o(n (qanaton tou Ihsou) tinej arnountai (di' ou musthriou elabomen to pisteuein, kai dia touto upomenomen k. t. l.).


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 owohl [sic] darum zu thun, die Ketzer selbst von ihren Irrthümern zu überzeugen, als die Gemeinden vor ihrem Gifte zu sichern *), und sie in dem Glauben an die  w i r k l i ch e  Geburt, das  w i r k l i ch e  Leiden und die  w i r k l i ch e  Auferstehung Jesu zu befestigen **). Hätte er gegen die Ketzer selbst geschrieben, so ließe sich der Umstand, daß er nie eine Syngraphe erwähnt, damit entschuldigen, daß er ex concessis disputiren, und deswegen aus Schriften, welche von seinen Gegnern verworfen würden, keinen Beweis hernehmen wollte. Da er aber rechtgläubige Christen in der Ueberzeugung von der Wahrheit der evangelischen Geschichte befestigen wollte; so mußte er nothwendig, wenn wirklich Syngraphen im kirchlichen Ansehen waren, diese als Zeugnisse der Augenzeugen citiren. Denn sie hätten den sichersten Beweis gegeben, und wären also die stärksten Gegenmittel gegen die neue Ketzerei gewesen. Anstatt aber Syngraphen anzuführen, versichert er gewöhnlich nur schlechthin die Wahrheit der Geschichte Jesu; einigemal stützt er den Beweis für dieselbe augenscheinlich auf seine eigene Autorität. So sagt er in dem Briefe an die Smyrnäer: "Denn ich weiß es, daß er nach seiner Auferstehung im Fleische war" (d. i. einen wirklichen Körper hatte), "und

    *) Smyrn. 4.  profulassw de umaj apo twn qhriwn twn anqrwpomorfwn.
    **) Magn. 11.  qelw profulassesqai umaj, mh empesein eij ta agkistra thj kenodociaj, alla peplhroforhsqai en th gennhsei, kai tw paqei kai th anastasei (th genomenh en kairw thj hgemoniaj Pontiou) Pilatou praxqenta alhqwj kai bebaiwj upo Ihsou Xristou.


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glaube es *)." Mehreremal deutet er auf die Ungereimtheit hin, die darin liegen würde, daß er (Ignatius), wenn Christus nur dem Scheine nach litt, sich um dessen Bekenntnis willen dem wirklichen Tode übergeben wollte. In dem Briefe an die Trallianer **) fragt er: "Wenn Christus bloß dem Scheine nach litt, weshalb trage ich denn Fesseln? Weshalb wünsche ich mit Thieren zu kämpfen? Ich sterbe also ohne Nutzen!  D o ch  i ch  b e l ü g e  d e n  H e r r n  n i ch t  (ich sage euch von dem Herrn nichts Unwahres)." Wenn man in dem letzten Satze Vossius Aenderung folgt, und oun für ou lieset, in dem Sinne:  I ch  b e l ü g e  a l s o  d e n  H e r r n?  so wird der Sinn der Hauptsache nach dadurch nicht geändert. Immer stützt sich der Beweis auf die individuelle Ueberzeugung des Märtyrers, von dem es sich nicht denken lasse, daß er von Jesu Unwahrheiten erdichte, um für ihn sterben zu können.
    So wie er in diesen Stellen die Christen auf sich verweiset, so verweiset er sie in andern auf ihren Bischof, damit sie durch festes Anhalten an diesem wie an dem Mittelpuncte, und durch gläubiges Annehmen seiner Lehren die Einigkeit des Glaubens und des Cultus bewahrten, und sich so gegen die Angriffe der Ketzer stärkten. Denn nach ihm ist das bischöfliche Amt göttliche Anord=

    *) Smyrn. 3.  egw gar meta thn anastasin en sarki auton oida kai pisteuw onta.
    **) Trall. 10.  ei wsper tinej aqeoi ontej, toutestin apistoi, legousin to dokein peponqenai auton, - - egw ti dedemai; ti de euxomai qhriomaxhsai; dwrean oun apoqnhskw: ara ou katayeudomai tou kuriou.  cf. Smyrn. 4.


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nung, die Bischöfe sind nach dem Willen Jesu eingesetzt, wie dieser nach dem Willen des Vaters Mensch wurde *). So wie man jeden, den der Hausvater in sein Hauswesen sendet, so empfangen muß, wie den Sender selbst, so muß man den Bischof so ehren wie den Herrn selbst **). Er steht an der Stelle Gottes, wie die Presbyter an der Stelle der Apostel ***). Wie die ganze Kirche mit Jesu, Jesus mit Gott verbunden ist, so ist die einzelne Kirche mit ihrem Bischofe verbunden ****). Wie daher Jesus ohne Gott nichts that, so handele keiner in kirchlichen Dingen ohne den Bischof und die Presbyter +). Wer dem Bischofe gehorcht, gehorcht zugleich Gott ++), und wird von Gott geehrt, wer ihn nicht achtet und sich über ihm erhaben dünkt, dient dem Teufel +++) und ist verloren ++++). Die Einigkeit in der Kirche zu erhalten und Spaltungen zu verhindern, müssen die Christen unzertrennlich seyn von Jesu Christo, dem Bischofe und

    *) Eph. 3.  Ihs. Xristoj - - tou patroj h gnwmh, wj kai oi episkopoi oi kata ta perata orisqentej en Ihsou xristou [sic] gnwmh eisin.  cf. Smyrn. 8.
    **) Eph. 6.
    ***) Magn. 6.
    ****) Smyrn. 8.  Eph. 5.
    +) Vergl. die häufig vorkommende Ermahnung: xwrij tou episkopou ouden poieite (sc. ti twn anhkontwn eij thn ekklhsian Smyrn. 8.).
    ++) Eph. 5.  spoudaswmen oun mh antitassesqai tw episkopw, ina wmen qeou upotassomenoi.
    +++) Smyrn. 9.  kalwj exei, qeon kai episkopon eidenai: o timwn episkopon, upo qeou tetimhtai: o laqra episkopou ti prasswn, tw diabolw latreuei.
    ++++) Polyc. 5. ean gnwsqh| pleon tou episkopou, efqartai.


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den Verordnungen der Apostel *). Diese Einigkeit besteht aber darin, daß die Christen in Einem Sinne und Einer Meinung an einander halten, und alle  v o n  d e m s e l b e n  d a s s e l b e  sagen **).
    Man hat von diesen häufigen und starken Empfehlungen der bischöflichen Würde einen Hauptgrund gegen die Aechtheit der Ignatianischen Briefe entlehnt. Da man aber in denselben jede Spur von einer Unterordnung der Bischöfe unter einander, und von einer allgemeinen Verbindung derselben vermißt, so kann man doch die Abfassung jener Briefe nicht nach der Vereinigung der katholischen Kirche setzen. Es läßt sich hingegen das frühe Ansehen der Bischöfe sehr gut erklären, wenn man aus obiger Untersuchung festhält, daß sie für Zeugen des Evangeliums ***), und des sich darauf stützenden Glaubens galten, und daß ihre persönliche Autorität in jenem Zeitalter für die ächteste Erkenntnißquelle des Evangelii galt. Einen unverwerflichen Beleg dafür, daß der Bischof in diesen Zeiten durch seine Persönlichkeit Mittel= und Stützpunct der Gemeinde war, giebt die Erzählung des  E u s e b i u s +), daß die Gemeinde von Athen nach

    *) Trall. 7.  fulattesqe oun toij toioutoij (airetikoij): touto de estai umin mh fusioumenoij, kai ousin axwristoij qeou Ihsou Xristou, kai tou episkopou, kai twn diatagmatwn twn apostolwn.
    **) Eph. 2. - - ina en mia upotagh hte kathrtismenoi tw autw noi" kai th auth gnwmh, kai to auto leghte pantej peri tou autou. In dem untergeschobenen Briefe ad Heronem c. 2. heißt es ouden legein para ta diatagmena.
    ***) Constitt. Apost. 2, 25.  oi doxeij tou logou kai aggelthrej,  2, 29. mesitai tou logou.
    +) Euseb. hist. eccl. IV, 3.


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dem Tode ihres Bischofs fast ganz aufgelöst, und erst wieder gesammelt sey, als sie in dem Quadratus einen neuen Bischof erhalten habe. Vielleicht findet sich auch in dem spätern Ordinationsritus noch eine Spur davon, daß die ältesten Bischöfe als Zeugen des Evangelii betrachtet wurden. Schon vom 2ten Jahrhunderte her war es nämlich Sitte auf das Haupt des Bischofs, während die Einsetzungsworte gesprochen wurden, das aufgeschlagene Evangelium zu legen *). Dieser Ritus scheint die Collation des Zeugnisses symbolisch dargestellt zu haben, und entstand wahrscheinlich, nachdem die schriftlichen Evangelien als heilige Schriften an die Stelle der Tradition gesetzt waren.
    Auch andere Erscheinungen finden sich im zweiten Jahrhundert, die deutlich zu erkennen geben, daß das früheste christliche Zeitalter keinen Werth auf die vorhandenen Syngraphen gelegt, und die mündliche Paradosis des Evangelii für wichtiger gehalten habe.
    Papias, Bischof von Hierapolis, erklärt geradezu **), er glaube, daß dasjenige, was er aus Büchern lernen könne, ihm nicht so viel nütze, als der Unterricht durch die lebendige Stimme. Er habe sich deshalb an die Presbyter gewandt, um von ihnen die Lehren der Apostel zu erfahren. Bei der Auswahl seiner Lehrer habe er nicht, wie der große Haufe, die vorgezogen, welche viel, sondern die, welche Wahrheit redeten. Wenn Pa=

    *) Constitt. Apost. VIII. c. 4.
    **) Pap. ap. Eus. h. e. III, 39. ou gar ta ek twn bibliwn tosouton me wfelein upelambanon, oson ta para zwshj fwnhj kai menoushj.


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pias, ein rechtgläubiger Bischof, in diesen Worten die Syngraphen der mündlichen Tradition nachsetzt, so müssen wir schließen, daß damals noch keine Syngraphen in kirchlichem Gebrauche waren. Sonst hätte er ja die kirchliche Rechtgläubigkeit verlassen, und würde schwerlich beim Irenäus Gnade gefunden haben, der die Evangelien mit so großem Nachdrucke empfiehlt. Wenn ihn nun dieser dennoch so hoch achtet, und als einen Ioannis auditorem Polycarpi contubernalem *) preiset; so folgt daraus der Schluß, daß Irenäus die Verschiedenheit der Zeitalter kannte, und nur in Rücksicht auf das seinige Achtung der 4 Evangelien als Erforderniß zu einem orthodoxen Christen aufstellte.
    Eben dasselbe scheint auch aus der Stelle zu folgen, wo Irenäus vom Polycarp - seinem Lehrer - sagt, daß dessen Erzählungen von den Wundern und der Lehre Jesu, die derselbe von Augenzeugen empfangen hätte,  m i t  d e n  S ch r i f t e n  ü b e r e i n st i m m e n d  gewesen wären **). Also Polycarp gebrauchte so wenig wie Papias Syngraphen beim Unterrichte seiner Schüler, sondern zog denselben die Nachrichten vor, die er selbst aus dem Munde der Apostel empfangen hatte. Diese fand aber Irenäus in der Folge ganz übereinstimmend mit den Evangelien.
    Daher erklärt es sich denn auch, wie Irenäus die

    *) Iren. 5, 33.
    **) Iren. epist. ad Florin. (ap. Eus. 5, 20.)  peri twn dunamewn autou (kuriou) kai peri thj didaskaliaj, wj para twn autoptwn thj zwhj tou logou pareilhfwj o Polukarpoj, aphggele panta sumfwna taij grafaij.


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Nothwendigkeit des Evangelii Lucä dadurch beweisen kann, daß er sagt, viele und nöthige Theile des Evangelii seyen in demselben allein enthalten *). Das Evangelium, an dem die Syngraphe des Lucas hier geprüft wird, kann nur die Tradition von der Geschichte Jesu seyn. Diese konnte aber nur dann als Prüfstein der Syngraphen gedacht werden, wenn sie früheres Ansehen hatte, als diese.
    Das Resultat dieser Untersuchungen ist also folgendes: Da gewisse alte Sagen ihrer Natur nach nur einem Zeitalter angehört haben können, welches auf schriftliche Evangelien überhaupt keinen Werth legte; da in den Schriften der apostolischen Väter alle evangelische Stellen wie aus der Tradition citirt werden; da sie nirgends, selbst in Verbindungen nicht, wo der Natur der Sache nach das schriftliche Zeugniß eines Augenzeugen am meisten Gewicht haben mußte, einer Schrift erwähnen; da sie nicht auf heilige Schriften, sondern auf Personen als auf Stützen des Glaubens verweisen; da von andern apostolischen Vätern theils durch ihr eigenes, theils durch das Zeugniß eines Schülers es gewiß ist, daß sie die mündliche Paradosis den Schriften vorgezogen: so müssen wir daraus schließen, daß in diesen Zeiten, obgleich ächte Syngraphen aus dem apostolischen Zeitalter vorhanden waren, diese dennoch keine kirchliche Autorität hatten, sondern bloß zum Privatgebrauche dienten. Wir können zugeben, und es ist sogar wahrscheinlich, daß sie von Bischöfen wie von Gemeidegliedern [sic] privatim zur Wiedererinnerung an gehörte Erzählungen gebraucht sind; aber

    *) Iren. adv. haer. III. c. 14. §. 3. cf. c. 15.


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die kirchliche Autorität, auf welche sich der Glauben stützte, waren sie nicht. Die Kraft des Zeugnisses von Jesu und seinem messianischen Leben war von den Aposteln auf die von ihnen unterrichteten, und als Bischöfe und Presbyter den Gemeinden vorgesetzten Männern übergegangen. Diese predigten das Evangelium, wie sie es empfangen hatten, auf ihre Autorität stützte sich der Glaube der Gemeinde.
    Da nun so das Alte Testament allein die heilige Schrift der Christen blieb, so kann es nicht auffallen, wenn sich die, schon im Neuen Testament oft vorkommende, Meinung, daß in dem A. T. das Neue ganz vorgebildet und geweissagt sey, in diesen Zeiten noch stärker ausbildete. Umgekehrt liegt aber auch darin, daß sich diese Meinung so sehr ausbildete, eine Unterstützung der Annahme, daß das A. T. die  e i n z i g e  heilige Schrift der Christen in diesen Zeiten gewesen sey, in welcher diese daher gern alles finden wollten. Um diese Behauptung zu würdigen, folge hier eine zusammengedrängte Uebersicht der Meinungen des zweiten Jahrhunderts über das Verhältnis des A. T. zum Christenthume.
    So wie die Christen an der Stelle der Juden das auserwählte Volk Gottes und die Erben seiner Verheißungen wurden *), so hörte auch das A. T. auf, Eigenthum der Juden zu seyn, und ging zu den Christen über **).

    *) Barn. 6.  klhronomoi thj diaqhkhj kuriouIustin. dial. c. Tryph. p. 308. ta palai en tw genei umwn eij hmaj meteteqh.
    **) Iustin. coh. ad Graec. p. 14.  gnwtw ap )autwn twn en taij bibloij gegrammenwn, oti ouk autoij, alla hmin h ek toutwn diaferei didaskalia.


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Jene verstehen dasselbe nicht und gehorchten ihm nicht *), sie haben die besondere göttliche Gnade, die dazu gehört, die Aussprüche des A. T. richtig zu verstehen **), und welche nur den Christen zu Theil geworden ist, nicht empfangen ***). Derselbe Logos, der nach seiner Menschwerdung durch den Körper zu uns redete, erschien schon dem Abraham ****), dem Moses +) und den Propheten und redete zu ihnen und durch sie ++). Die Propheten des A. T. waren also Schüler Christi, lebten nach seinen Vorschriften und hofften im Geiste auf ihn als auf ihren Lehrer +++). Durch sie ist das ganze Evangelium vorher verkündet, aber nicht bloß mit dürren Worten, sondern auch in mystischen Reden und symbolischen Handlungen ++++). So sind die Verordnungen Mosis Typen des

    *) Iustin. dial. c. Tryph. p. 246.  en toij umeteroij apokeintai grammasi, mallon de oux umeteroij all ) hmeteroij: hmeij gar autoij peiqomeqa, umeij de anaginwskontej ou noeite ton en autoij noun.  cf. Barn. 10.
    **) Iustin. dial. c. Tryph. p. 319. ei oun tij mh meta megalhj xaritoj thj para qeou laboi nohsai ta eirhmena kai gegenhmena upo twn profhtwn, ouden auton onhsei [sic] etc.
    ***) l. c. p. 346.  qelhmati tou qelhsantoj auta (hmeij Xristianoi) elabomen xarin tou nohsai.
    ****) Recogn. Clem. I, 33.  Barn. epist. 9.
    +) Recogn. Clem. I, 34.
    ++) Iustin. Mart. Apol. II. p. 76. taj leceij twn profhtwn - - legesqai nomishte - apo tou kinountoj autouj qeiou logou. cf. Clem. Alex. eclog. ex script. Proph. c. 23.  Iren. IV, 37.
    +++) Ignat. ad Magn. 8.  oi qeiotatoi profhtai kata Ihsoun Xriston ezhsan. - c. 9. Xristou oi profhtai maqhtai ontej tw pneumati wj didaskalon auton prosedokoun.
    ++++) Iustin. dial. c. Tr. p. 294. pollouj logouj touj apokekalummenwj kai en parabolaij h musthrioij h en sumbolou ergwn lelegmenouj.  Iren. IV, 37. Non enim solum sermone prophe-


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Evangeliums, und bilden theils Begebenheiten des Lebens Jesu, theils Schicksale der Bekenner Jesu ab *). Da nun auf diese Weise das Gesetz das verherverkündete Evangelium, das Evangelium das erfüllte Gesetz ist **), so sind Moses und die Propheten Lehrer der christlichen Religion ***). Daher ist es bei den Schriftstellern dieser Zeit allgemein, das A. T. als den Grund des Glaubens anzusehen, während die Früheren gar nicht, und die Späteren wenig und unbestimmt die Schriften der Jünger Jesu erwähnten.  T h e o p h i l u s ****) und  T a t i a n +) gestehen vorzüglich durch die Lesung der Propheten zur Annahme der christlichen Religion bewogen zu seyn. Da, wo Athenagores den Heiden erweisen will, daß die Christen nicht Gottesläugner seyen, beruft er sich bloß auf die Schriften der Propheten ++), als ob sie die einzigen Bücher wären, aus denen die christliche Religion erkannt werden könnte. Der Greis, der durch sein Gespräch den Justin für das Christentum einnimmt, empfiehlt ihm bloß die Lesung der Propheten, "welche

tabant Prophetae, sed et visione et conversatione et actibus secundum id quod suggerebat Spiritus.
    *) Dial. c. Tryph. p. 261.
    **) Iustin. Quaest. et respons. ad orthodox. p. 457. (Resp. 101.) ti gar estin o nomoj; euaggelion prokathggelmenon. ti de to euaggelion; nomoj peplhrwmenoj.
    ***) Iustin. cohort. ad Graecos p. 10. o prwtoj thj qeosebeiaj hmwn didaskaloj Mwshj [sic] - - - toutouj (Mwushn kai touj loipouj profhtaj) h meij [sic] thj hmeteraj qrhskeiaj didaskalouj gegenhsqai famen.
    ****) Theoph. ad Autol. lib. I. p. 78.
    +) Tatiani orat. contr. Graec. p. 165.
    ++) Athenagor. leg. pro Christ. p. 9.


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a l l e i n  die Wahrheit gesehen und sie den Menschen verkündet haben *)." Justin sagt selbst am Schlusse seiner Ermahnungsrede an die Griechen mit dürren Worten, daß man nirgendwo etwas über Gott und die wahre Religion lernen könne, als allein von den Propheten, die vom heiligen Geiste beseelt uns darüber belehrten **). Daher pflegt dieser Kirchenvater auch den Aussprüchen, welche er aus den apomnhmoneumasi twn apostolwn citirt, Stellen aus dem A. T. hinzuzufügen, um ihre Wahrheit darzuthun, gleich als ob er jenen Schriften der Apostel allein nicht glaubte ***).
    Es braucht nur angedeutet zu werden, wie hierdurch die oben vorgetragenen Ansichten bestätigt werden. Wären schriftliche Evangelien diesem Zeitalter schon heilige Schriften gewesen, so konnten die Schriftsteller desselben nicht so ausschließlich das A. T. als die heilige Schrift der Christen und die Erkenntnißquelle ihres Glaubens empfehlen. Jene Vorstellungen und Aeußerungen sind nur in einem Zeitalter denkbar, wo entweder die schriftlichen Evangelien noch gar kein kirchliches Ansehen hatten, oder es erst allmählig erhielten.
    Es bleibt nun noch übrig, so weit es uns bei der Entfernung von jenem Zeitalter möglich ist, eine Erklä=

    *) Iustin. dial. c. Tryph. p. 224.  outoi monoi (profhtai) to alhqej kai eidon kai eceipon anqrwpoij.
    **) Iustin. cohort. ad Graec. in fine p. 37.  pantaxoqen toinun eidenai proshkei, oti oudamwj eterwj peri qeou h thj orqhj qeosebeiaj manqanein oion te, h para twn profhtwn monon, twn dia thj qeiaj epipnoiaj didaskontwn umaj.
    ***) cf. Rosenmülleri historia interpret. libr. Sacr. in eccl. christ. T. I. pag. 149-151.


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rung der auffallenden Erscheinung zu versuchen, daß die Christen jener Zeit die Tradition als Erkenntnißquelle des Evangeliums gebrauchen konnten; obgleich Syngraphen aus dem apostolischen Zeitalter, und unter ihnen sogar Schriften von Aposteln und Schülern der Apostel vorhanden waren, von denen doch jede Gemeinde die Eine oder die Andere entweder kannte, oder, wenn sie wollte, leicht kennen lernen konnte.
    Zuerst gilt auch hier die schon oben gemachte Bemerkung, daß ein oligographisches Zeitalter immer die mündliche Mittheilung dem Gebrauche einer Schrift vorzieht. Papias kannte die Evangelien des Matthäus und Marcus, und hielt sie für ächt, zog ihnen aber doch die cwshn [sic] fwnhn kai menoushn vor. Eindringlicher und lebendiger war unstreitig die Erzählung eines Mannes, der sie von den Aposteln selbst empfangen hatte, und dem das Zeugniß für Christum übertragen war, als die Lesung einer Schrift es seyn konnte.
    Eine heilige Schrift hatten die Christen im A. T., das nach ihrer Ueberzeugung nur für sie bestimmt war, und überdieß den Vorzug eines grauen Alterthums, der selbst den damaligen heidnischen Philosophen ein wichtiges Moment schien, hatte.
    Dann scheint es aber auch, als ob der Misbrauch [sic] den schon früh ketzerische Partheien von schriftlichen Evangelien machten (s. unten), die orthodoxen Christen gegen diese eingenommen habe. Jede Syngraphe umfaßte nur einen Theil des Evangeliums, konnte also, allein gebraucht (wie dieß wirklich bei Ketzern der Fall war), zur Einseitigkeit und zu falschen Lehrsätzen verleiten. Da


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man nun noch nicht darauf gefallen war, mehrere Syngraphen zur wechselseitigen Ergänzung mit einander zu verbinden, so mußte die das ganze Evangelium begreifende Tradition vor jeder einzelnen Syngraphe den Vorzug haben.
    Daß diese Tradition in der Kirche rein erhalten blieb, dafür bürgte der Glaube, daß die außerordentlichen Gaben des heiligen Geistes, der früher in den Aposteln die Erinnerung an das Leben Jesu verlebendigt hatte, noch in der Kirche fort wirke *).

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§. 3.

U e b e r  d i e  e r st e n  S p u r e n  v o n  d e m  G e b r a u ch e  s ch r i f t l i ch e r  E v a n g e l i e n  b e i  O r t h o d o x e n.

    Da die Geschichte durchaus darüber schweigt, wie und wann die 4 canonischen Evangelien in den Gemeinden eingeführt sind; so darf man keinen Aufsehen machenden Impuls, durch welche jene Einführung bewirkt sey, voraussetzen, wenn man jenes Schweigen nicht ganz unerklärlich machen will. Um also Zeit und Veranlassung derselben einigermaßen zu bestimmen, bleibt nichts anders übrig, als zu beachten, wo und wie schriftliche Evangelien zuerst erwähnt werden, und dann die ganze Lage der Kirche jener Zeiten in Erwägung zu ziehen, um die Veranlassung zu jener Veränderung in ihr zu entdecken.
    P a p i a s,  Bischof von Hierapolis, ein Zeitgenosse

    *) Iustin. dial. c. Tryph. 308.  para hmin kai mexri nun profhtika xarismata estin.


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des Polycarpus *), ist bekanntlich der Erste, der die Evangelien Matthäi und Marci namentlich erwähnt. Sie müssen zu seiner Zeit schon angefangen haben, unter der Menge der übrigen Syngraphen ausgezeichnet zu werden; er selbst zieht ihnen aber die Tradition vor.
    P o l y c a r p u s,  Bischof von Smyrna (+ 167.), erwähnt in seinem Briefe so wenig als Ignatius eines geschriebenen Evangeliums. Dieser Brief ist indeß, nach seinem, vom Eusebius **) und in einer alten lateinischen Version erhaltenen, Schlusse zu urtheilen, bald nach dem Tode des Ignatius (+ 116.) geschrieben, und kann also für die folgende Lebenszeit des Polycarpus nichts beweisen. Da nun nach andern Geschichtsdaten vor dem Tode des Polycarpus in Asien der Gebrauch der vier Evangelien gewöhnlich gewesen seyn muß, da er als der vornehmste Bischof in Kleinasien ** ) nicht ohne Antheil an der Einführung derselben gewesen seyn kann, da sein Schüler Irenäus ein so eifriger Vertheidiger der Canonicität der 4 Evangelien ist; so verdient es immer Aufmerksamkeit, daß Polycarpus der älteste Vater ist, von welchem sich in den Catenen Erklärungen einiger Stellen der 4 Evangelisten finden +), selbst wenn es ausgemacht

    *) Iren. 5, 33.  Polycarpi contubernalis.
    **) Euseb. h. e. 3, 36.
    ***) In dem Briefe der smyrnensischen Gemeinde über den Märtyrertod des Polycarpus (Coteler. patr. Apost. T. II. p. 193. Euseb. h. e. 4, 15.) urtheilen die Heiden und Juden über denselben (C. 12.):  outoj estin o thj Asiaj didaskaloj, o pathr twn Xristianwn.
    +) Es sind 5 Fragmente, die sich in der Catene des Victor Bischofs von Capua finden, welche zuerst der Franciscaner Feuar-


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ist, daß ein oder das andere Fragment nicht von ihm herrühren könne.
    Zwischen den Jahren 130-150 haben zwei Nichtchristen, der Epicuräer  C e l s u s  und der Jude  T r y p h o n,  nach ihrer eigenen Versicherung schriftliche Evangelien gelesen. Celsus muß mehrere Evangelien gelesen haben, denn er nennt sie nicht nur im Plural suggrammata, sondern spricht auch von Widersprüchen unter denselben *). Die berühmte Stelle, in der er den Christen vorwirft, daß sie ihr Evangelium wie Betrunkene drei, vier und mehreremal umgeändert hätten **), scheint so zu erklären zu seyn, daß er mehrere sehr ähnliche Evangelien kannte, und nun voraussetzte, sie seyen sämmtlich durch willkührliche Ueberarbeitungen aus Einer Schrift entstanden. Ob es unsere Evangelien waren, welche Celsus gelesen hatte, kann nicht bestimmt werden. Es ist

dentius in seiner Ausgabe des Irenäus (Paris, 1639.) S. 241. bekannt machte, und die auch Cotelerius Th. 2. S. 203. aufgenommen hat.
    *) An mehrern Orten versichert er die Schriften der Schüler Jesu gelesen zu haben, z. B. Orig. c. Cels. (ed. Genebrardi. Paris, 1619.) II. pag. 433. A. "cum multa possim de Iesu rebus dicere vera, nec scriptis discipulorum ejus similia etc. II. p. 444. G.  Tandem Celsi Iudaeus clausurus orationem suam sic loquitur: "Haec igitur vobis protulimus ex vestris literis (ek twn umeterwn suggrammatwn)." - Unter den Stellen, wo er Widersprüche der Evangelien rügt, s. lib. V. pag. 488. H. "Quin et ad ipsius sepulcrum tradunt venisse angelum, alii unum, alii duos etc." (Wirklich reden Matth. 28, 5. Marc. 16, 5. nur von Einem, dagegen Luc. 24, 4. Joh. 20, 12. von zwei Engeln).
    **) Orig. c. Cels. lib. II. p. 435. F.  Post haec dicit quosdam fidelium quasi per temulentiam permittere sibi quidvis in mutanda scriptura evangelica (metaxarattein ek thj prwthj grafhj to euaggelion) tribus modis, quatuorve aut pluribus etc.


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indeß nicht unwahrscheinlich, obgleich Origenes aus innern, aber schwachen Gründen es bezweifelt *). Da nun auch Tryphon mehreremal versichert, das Evangelium gelesen zu haben **) (ohne daß wir indeß dasselbe näher bestimmen könnten), so sind wir zu der Annahme berechtigt, daß in dem oben bezeichneten Zeitraume von einzelnen Evangelien so viele Exemplare vorhanden waren, daß sie selbst in die Hände von Nichtchristen fallen konnten.
    J u st i n u s  M a r t y r  (+ 167.), aus Sichem in Samarien ist unter den noch vorhandenen christlichen Schriftstellern der Erste, der schriftliche Nachrichten von Jesu Leben, nach seiner Behauptung von Aposteln und deren Schülern verfaßt, unter den Namen: apomnhmoneumata, euaggelia oder euaggelion oft citirt, und zugleich die Nachricht giebt, daß dieselben in den Versammlungen der Christen vorgelesen würden ***). Daß sie am wahrscheinlichsten für ein Evangelium aus der Familie der Evangelien nach den Hebräern gehalten werde, ist schon oben bemerkt. Justinus Martyr gebrauchte also um diese Zeit auch in Rom und Kleinasien ein von unsern canonischen Evangelien verschiedenes Evangelium, ohne in diesen Gegenden damit anzustoßen. Uebrigens scheint er, wie dieß oben erinnert ist, dieses Evangelium

    *) Orig. c. Cels. lib. I. pag. 427. D. - evangelia, quae Celsus ne legisse quidem videtur etc.
    **) z. B. Iustin. dial. c. Tryph. pag. 227. C., wo Tryphon sagt:  emoi gar emelhsen entuxein autoij (sc. toij en tw legomenw euaggeliw paraggelmasi).
    ***) Iustin. Apol. II. p. 98.  ta apomnhmoneumata twn apostolwn h ta suggrammata twn profhtwn anaginwsketai mexrij egxwrei.


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dem A. T. in Hinsicht der Heiligkeit nachzusetzen, insofern er die Aussprüche von jenem erst durch Hinzufügung alttestamentlicher Stellen zu bekräftigen sucht.
    H e g e s i p p u s,  ebenfalls ein palästinensischer Christ, kam nach Rom unter dem Bischofe Anicetus, und blieb daselbst bis Eleutherus Bischof wurde (160-170.). Nach dem Eusebius gebrauchte er das Evangelium nach den Hebräern *), fand aber damit unter den occidentalischen Orthodoxen eben so wenig Anstoß, als er an ihrer Sitte Anstoß nahm. Er erklärt ausdrücklich den Glauben in den Gemeinden von Rom und Corinth für orthodox **).
    D i o n y s i u s,  Bischof von Corinth (um 170.) klagt in einem Briefe an die Gemeinde zu Rom, deren Bischof damals Soter war, daß die Abgesandten des Teufels nicht nur seine Briefe, sondern sogar auch die Schriften des Herrn, d. i. die Evangelien zu verfälschen wagten ***). Dionysius setzt hier die Evangelien weit über seine Briefe, er hält auf einen gewissen Text, und klagt die an, welche diesen anzutasten wagten. Wahrscheinlich geht diese Klage auf den Marcion, gegen welchen Dionysius

    *) Euseb. h. e. IV, 22.  ek te tou kaq 0 Ebraiouj euaggeliou kai tou Suriakou, kai idiwj ek thj Ebrai+doj dialektou tina tiqhsin.
    **) Hegesipp. ap. Euseb. l. c.  en ekasth de diadoxh kai en ekasth polei outwj exei, wj o nomoj khruttei kai oi profhtai, kai o kurioj.
    ***) Dionys. ap. Euseb. h. e. IV. c. 23. ou qaumaston ara ei kai twn kuriakwn radiourghsai tinej epibeblhntai grafwn, opote kai taij (sc. epistolaij emou) ou toioutaij epibeblhkasi. - Auch Clem. Alex. Strom. VI. c. 11. und VII. c. 1. nennt die Evangelien kuriakai grafaiIren. II. c. 66. V, 20. dominicae scripturae.


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in seinem Briefe an die Nicomedier ausdrücklich polemisirt hat *). Nach diesen Aeußerungen können wir nicht zweifeln, daß die Gemeinde von Corinth um diese Zeit gewisse Evangelien als kirchliche Schriften besaß.
    C l a u d i u s  A p o l l i n a r i s  war um 170. Bischof von Hierapolis in Phrygien, Verfasser einer Schutzschrift für die Christen und vieler andern Bücher, von welchen  E u s e b i u s **) zu verstehen giebt, daß er sie nicht alle kenne. In dem Chronicon Paschale kommt ein Fragment aus einer Schrift desselben "über das Pascha" vor, das aber deshalb zweifelhaft ist, weil kein älterer Schriftsteller diese Schrift erwähnt. In diesem Fragmente werden diejenigen bestritten, welche meinen, daß Jesus am 14ten Tage das Osterlamm gegessen und am großen Tage des Festes gelitten habe. Es wird gesagt, daß, wenn sie den Matthäus für ihre Meinung anführten, daraus folgen würde, daß die Evangelien mit einander nicht übereinstimmten ***). Ist dieß Fragment ächt, was freilich nicht ausgemacht werden kann, so beweiset es, daß um

    *) Euseb. l. c.  allh d 0 epistolh tij autou proj Nikomhdeaj feretai, en h thn Markiwnoj airesin polemwn tw thj alhqeiaj paristatai kanoni.
    **) Euseb. IV, 27.  tou d 0 Apolinariou pollwn para polloij swzomenwn, ta eij hmaj elqonta esti tade k. t. l.
    ***) Fragm. ex Claud. Apoll. libro de paschate in Chronic. paschal. (ed. du Fresne Par. 1688.) praef. pag. 6. 7.  eisi toinun oi di 0 agnoian filoneikousi peri toutwn, - - - - kai legousin, oti th| id 0 to probaton meta twn maqhtwn efagen o kurioj: th de megalh hmera twn azumwn autoj epaqen: kai dihgountai Matqaion outw legein wj nenohkasin: oqen asumfwnwj te nomw h nohsij autwn: kai stasiazein dokei kat 0 autouj ta euaggelia.


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170 in Hierapolis Matthäus und andere Evangelien (daß die drei andern canonischen gemeint sind, darf man billig nicht bezweifeln) kirchliches Ansehen und Beweiskraft hatten).
    T h e o p h i l u s,  Bischof von Antiochien (170-180.), führt in seinen drei Büchern an den Autolycus meistentheils seine evangelischen Citate mit eben so allgemeinen Formeln an, wie die apostolischen Väter. Nur den Anfang des Evangelii Johannis citirt er mit namentlicher Erwähnung des Verfassers, den er zwar zu den pneumatoforoij rechnet, dessen Schrift er aber von den agiaij grafaij, dem Alten Testamente, nicht undeutlich unterscheidet *)  Wenn er in einer andern Stelle von Evangelien spricht, deren Verfasser ebenfalls pneumatoforoi gewesen seyen **), so können wir, wenn wir zu derselben Zeit in andern Gemeinden die 4 Evangelien eingeführt finden, nicht zweifeln, daß er diese vor Augen habe. Ob er eine Harmonie der Evangelien oder einen Commentar über dieselben geschrieben habe, ist ungewiß ***).

    *) Theoph. ad Autolyc. l. II. p. 100. oqen didaskousin hmaj ai agiai grafai, kai pantej oi pneumato foroi, ec wn Iwannhj legei: en arxh o logoj k. t. l.  cf. Rosenmüller hist. interpr. libr. sacr. P. I. pag. 200.
    **) Theoph. ad Autol. III. p. 124. unten: akolouqa eurisketai kai ta twn profhtwn kai twn euaggeliwn exein, dia to touj pantaj pneumatoforouj eni pneumati qeou lelalhkenai.
    ***) Hieron. epist. ad Algasiam: Theophilus Antiochenae Ecclesiae post Petrum episcopus, qui quatuor Evangelistarum in unum opus dicta compingens, ingenii sui nobis monumenta reliquit. - Dagegen spricht Hieronymus in seinem Catalogus (C. 25.) von einem Commentare des Theophilus über das Evangelium.


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    Daß zur Zeit des Theophilus in andern Gemeinden, namentlich in dem westlichen Kleinasien, Rom, Lugdunum, Alexandrien und Africa die vier Evangelien vollkommenes kirchliches Ansehen hatten, dieß wird durch die nun folgenden Zeugen unwidersprechlich gewiß.
    I r e n ä u s,  wahrscheinlich aus Asien gebürtig, ein Schüler Polycarps, nachher Bischof in Lugdunum, der mit seiner Gemeinde, besonders mit den Gemeinden in Rom *), Smyrna und Ephesus **), in Verbindung stand, schrieb seine fünf Bücher gegen die Ketzereien zwischen 176 und 190. Er erkennt nur die 4 Evangelien als ächte Grundsäulen des Glaubens ***) an, sucht sogar die Nothwendigkeit dieser Zahl durch Vergleichung mit den 4 Weltgegenden, den 4 Hauptwinden und der vierfachen Gestalt der Cherubim darzuthun +), und fordert unbedingt von jedem Orthodoxen die Anerkennung dieser Schriften. Wenn sich nun also auch im Irenäus Spuren finden, daß er ein früheres Zeitalter, welches ohne kirchlich geheiligte Evangelien war, gekannt habe, wie oben darauf hingedeutet ist; so nöthiget doch die Art und Weise, wie er von den vier Evangelien spricht, zu der Annahme, daß dieselben nicht erst kurze Zeit vorher in der Gemeinde von Lugdunum und in den apostolischen Gemeinden Smyrna, Ephesus und Rom ++), auf deren Zeugniß Irenäus so hohes Gewicht legt, eingeführt seyen.

    *) cf. Euseb. h. e. V, 4. 24.
    **) cf. Euseb. h. e. V, 1-3.
    ***) Iren. III, 1. fundamentum et columnam fidei nostrae.
    +) Iren. III, 11.
    ++) Iren. III, 3.


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    Von Rom bestätigt dieß außerdem das Verzeichniß der neutestamentlichen Bücher, welches  M u r a t o r i *) herausgegeben hat, das der darin befindlichen Angabe nach nicht lange nach der Zeit des römischen Bischofs Pius I., der um die Mitte des zweiten Jahrhunderts lebte, aufgesetzt ist, und welches die vier Evangelien als kirchliche Schriften aufführt.
    C l e m e n s,  Vorsteher der Catechetenschule in Alexandrien, der nach  D o d w e l l **) die noch jetzt von ihm vorhandenen Werke zwischen 193 und 195 schrieb, erkennt ebenfalls nur die 4 Evangelien als kirchliche Schriften an, und obgleich er auch die Evangelien der Hebräer und der Aegyptier einigemal als glaubwürdige Schriften anführt, so unterscheidet er diese doch von den paradedomenoij hmin tetarsin euaggelioij ***).
    T e r t u l l i a n,  Presbyter in Carthago im Anfange des dritten Jahrhunderts, stimmt nicht allein in der Anerkennung der 4 Evangelien mit Irenäus und Clemens überein, sondern sagt auch ausdrücklich, daß sich der Glaube an dieselben auf das Ansehen der apostolischen Gemeinden (unter welchen er die von Paulus und Johannes gestifteten, besonders aber die zu Rom anführt) stütze +), insofern die übrigen Christen sie durch diese Gemeinden erhalten hätten, und so wie dieselben besäßen.

    *) Muratori antiquitt. Ital. medii aevi. T. III. pag. 854.
    **) Dodwell dissert. Iren. III. §. 27.
    ***) Strom. l. III. p. 339.
    +) Tert. adv. Marc. IV. c. 5.  eadem auctoritas ecclesiarum apostolicarum ceteris quoque patrocinabitur Evangeliis, quae proinde per illas et secundum illas habemus.


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Kurz vorher behauptet er von dem Evangelium Lucä sogar, daß die apostolischen Kirchen und diejenigen, welche mit denselben verbunden gewesen wären, diese Schrift von ihrer ersten Bekanntmachung angenommen hätten *). Diese Behauptung darf uns nicht irre machen, selbst wenn sie nicht, wie es hier doch scheint, eine durch die Hitze des Streits herbeigeführte Aeußerung ist. Von einigen apostolischen Gemeinden ging die Einführung der Evangelien aus; nur dadurch gewannen sie bei den übrigen Gemeinden Eingang, daß man es erwies, das sie in jenen anerkannt wären, und von ihnen als kirchliche Schriften gebraucht würden. Hiermit konnte sich in den übrigen Gemeinden sehr leicht die Meinung erzeugen, daß sie in jenen von Anfang an gebraucht wären. Da keine Andern, als etwa Ketzer, widersprachen, so wurde dieß allmählig die Meinung der ganzen Kirche.
    Wir werden also durch die Zeugnisse dieser Schriftsteller für den Gebrauch der 4 Evangelien in dem westlichen Kleinasien, Rom und den damit in Verbindung stehenden Gemeinden um die Jahre 170-200, und durch die Art, wie sie davon sprechen, über die Mitte des zweiten Jahrhunderts, als den Zeitpunct zurückgeführt, wo zuerst die 4 Evangelien vereinigt kirchlichen Gebrauch erhalten haben mögen. Einen so frühen Zeitpunct fordert auch die Bemerkung, daß die Montanisten und Valentinianer, die um 140 entstanden, die 4 Evangelien ge=

    *) a. a. O.  Dico itaque, apud illas (ecclesias) nec solas jam apostolicas, sed apud universas, quae illis de societate sacramenti confoederantur, id evangelium Lucae ab initio editionis suae stare, quod cum maxime tuemur.


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brauchten. Von jenen beweiset es theils das Beispiel des Tertullian, der noch als Montanist unsere vier Evangelien zu gebrauchen fortfuhr, theils dessen ausdrückliche Versicherung, daß die Montanisten durchaus von keiner Glaubensregel der übrigen Christen abwichen *). Daß die Valentinianer die 4 Evangelien gebrauchten, bezeugen  T e r t u l l i a n  und  I r e n ä u s **), und außerdem erhellt es daraus, daß der Valentinianer Heracleon die Evangelien Lucä und Johannis commentirte. Es läßt sich nicht denken, daß die Orthodoxen von einer dieser Ketzerpartheien, und eben so wenig, daß Eine derselben von der Andern diese Sammlung angenommen habe. Daß beide Ketzerpartheien späterhin sie von den Orthodoxen entnahmen, ist eben so unwahrscheinlich; namentlich würden die stolzen Montanisten sich schwerlich verstanden haben, von den Psychicis Belehrung über die ächten Schriften der Apostel zu empfangen. Es bleibt also keine Annahme übrig, als die, daß zu der Zeit, wo sich diese Partheien von der Kirche trennten, schon die 4 Evangelien in Rom und Kleinasien (wo Valentinus und Montanus sich aufhielten), als kirchliche Schriften anerkannt waren.
    Es bleibt nun noch übrig, die Veranlassungen, durch welche, und die Art, wie jene Sammlung veranstaltet und von den Kirchen angenommen wurde, aufzusuchen.

    *) Tert. de jejuniis c. 1.  propter hoc novae prophetiae recusantur; non, - - - quod aliquam fidei aut spei regulam evertant etc.
    **) Tert. de praescript. 38.  Valentinus integro instrumento uti videtur - - materiam ad scripturas excogitavit.
        Iren. III, 11.  plura habere gloriantur, quam sint ipsa evangelia (Valentin hatte ausserdem noch das evang. veritatis).

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§. 4.

U e b e r  d i e  S a m m l u n g  u n d  k i r ch l i ch e  E i n f ü h r u n g  d e r  v i e r  E v a n g e l i e n.

    Weit früher als bei den Orthodoxen finden wir bei den Häretikern gewisse Evangelien als heilige Schriften, als Erkenntnißquellen ihres Glaubens, im Gebrauche. Man erinnere sich an die Evangelien des Cerinths, Basilides, Carpocrates und Marcion. Forschen wir weiter nach, so werden wir bald auf die Gründe stoßen, welche die Häresiarchen vermochten, von der Gewohnheit der übrigen Christen ihrer Zeit abzuweichen, und gewisse Syngraphen für ihre Secte zu canonisiren.
    Sobald als wissenschaftlich gebildete Männer zum Christenthume übertraten, so mußte sich in ihnen der doppelte Wunsch  e i n e r  h i st o r i s ch e n  B e u r k u n d u n g  des Lebens und der Lehre Jesu, und einer  p h i l o s o p h i s ch e n  B e g r ü n d u n g  der letztern regen. Die übrigen Christen suchten in dem Evangelio mehr Nahrung für ihr Herz, als Stoff zu Speculationen, und so genügte ihnen die mündliche Tradition vollkommen; in den wissenschaftlich Gebildeten mußte aber das Verlangen entstehen, die Geschichte und Lehre Jesu der Tradition, in die doch immer Irrthümer, Weglassungen und Zusätze einschleichen konnten, zu nehmen, sie schriftlich zu fixiren, um ein festes Substrat zur genauen historischen Kenntniß und zum philosophischen Nachdenken zu gewinnen. Sie hätten durch die schriftlichen Evangelien der Jünger Jesu allerdings ihre Wünsche befriedigen können; aber entweder kannten sie diese nicht, oder sie legten zur Beurtheilung ihrer


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Aechtheit ein falsches Criterium an, nämlich die Uebereinstimmung mit ihrem dogmatischen Systeme. Es ist eine bekannte Sache, daß die griechischen Philosophen, die zum Christenthume übertraten, ihre früheren philosophischen Ansichten mit hinübernahmen, und durch diese die wenigen dogmatischen Lehren des damaligen Christenthums zu begründen und zu bestimmen suchten. Indem sie nun das dadurch erhaltene Product für ächtes christliches System hielten, so mußte ihnen dieß auch für den untrüglichsten Probierstein gelten, die Wahrheit der verschiedenen Erzählungen von Christo zu bestimmen. Alle andere äußere Gründe mußten diesem innern Entscheidungsgrunde untergeordnet werden, und es konnte ihnen auch nicht schwer werden, jene auf mancherlei Art zu entkräften *). Durch dieses Verfahren, welches sich selbst als höhere Critik ankündigte, sonderte nun ein Jeder aus der auf ihn gekommenen Tradition das mit seinem Systeme Harmonirende als ächt aus, vereinigte anderes durch die Künste einer gewaltsamen Interpretation mit seiner Dogmatik, entdeckte in dem Uebrigen Spuren von Verfälschungen, und emendirte entweder nach seiner analogia fidei, oder verwarf es als unächt gänzlich. Die so ausgeschiedenen Stücke des Evangelii wurden nun in Syngraphen fixirt, und diese erhielten in den verschiedenen Secten canonisches Ansehen.
    In den ältesten Zeiten war die Glaubensregel noch

    *) Tert. de praescr. 38.  Quibus fuit propositum aliter docendi, eos necessitas coëgit aliter disponendi instrumenta doctrinae.


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zu allgemein gefaßt, als daß nicht manche verschiedenartige Meinungen von übersinnlichen Dingen mit derselben gleich gut vereinigt werden konnten. Auch herrschte die practische Tendenz des Christenthums noch zu sehr vor, als daß geringere Abweichungen in Lehrmeinungen zu Verketzerungen hätten Anlaß geben können. Endlich mußten die Christen wegen ihrer geringern Menge und wegen des Druckes, den sie von Heiden und Juden duldeten, innere Spaltungen zu verhüten suchen, und um desto eher Privatmeinungen dulden. Da die christlichen Gemeinden selbst noch weniger verbunden waren, so konnte um so seltener der Fall eintreten, daß gewisse Meinungen in der ganzen Kirche verrufen wurden. Nur Irrthümer, welche die Grundsäulen des Christenthums zu stürzen drohten, wurden von den Bischöfen in ihren und befreundeten Gemeinden bekämpft, wie vom Ignatius die docetischen und ebionitischen Meinungen; die ganze Kirche wurde aber noch nicht durch Häresimachen erregt, und selbst Cerinth konnte einen solchen nicht wecken, obgleich derselbe in spätern Zeiten für einen der gräulichsten Kezzer [sic] galt.
    Wegen dieser Ruhe der ältesten Zeiten des Christenthums, die ihren Grund wohl am meisten in dem duldenten [sic] Character der Kirche selbst hatte, durfte man in spätern Zeiten mit einigem Scheine behaupten, daß, so lange die Apostel und andere Augenzeugen des Lebens Christi gelebt hätten, die Kirche, gleich einer reinen Jungfrau, von Ketzereien unbefleckt geblieben sey, und daß die Ketzer sich mit ihren Meinungen zurückgehalten hätten. Man pflegte unter den palästinensischen Christen die


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Regierung Trajans *), unter den übrigen die des Hadrian **) als die Zeit anzunehmen, wo zuerst die Ketzer muthiger ihr Haupt zu erheben gewagt hätten. Und allerdings waren die Unruhen der frühern Zeiten für nichts zu achten gegen die Bewegungen, welche der ungefähr gleichzeitige Auftritt der Häresiarchen  S a t u r n i n u s,  B a s i l i d e s  und  C a r p o c r a t e s  (zwischen 120 und 130 n. Chr.) hervorbrachte. Wie stark schildert Eusebius (K. G. 4, 7.) nicht den Contrast zwischen den bis dahin so ruhigen Zeiten der Kirche und den Gefahren, welche durch jene Häretiker derselben jetzt zu drohen anfingen!
    Erwägen wir die Zeitumstände näher, so wird uns bald die Größe dieser Gefahr einleuchten. Die Erbitterung der Römer gegen die Juden, welche trotz der wiederholten Züchtigungen immer noch fortfuhren, hartnäckig nach Selbstständigkeit zu streben, war um diese Zeit aufs höchste gestiegen. Auch auf die Christen, die wenigstens für eine den Juden sehr verwandte Religionsparthei ***) galten, ging gewiß dieser Haß mehr oder weniger über. In dieser Zeit nun, wo alles zur Einigkeit aufforderte, traten gleichzeitig drei Häresiarchen auf, und breiteten

    *) Hegesipp. ap. Euseb. III, 32.  mexri twn tote xronwn parqenoj kaqara kai adiafqoroj emeinen h ekklhsia, en adhlw pou skotei fwleuontwn eiseti tote twn, ei kai tinej uphrxon, parafqeirein epixeirountwn ton ugih kanona tou swthriou khrugmatoj. k. t. l, [sic]
    **) Clem. Alex. Strom. VII. c. 17.  katw de peri touj Adrianou tou basilewj xronouj oi taj aireseij epinohsantej gegonasi. cf. Euseb. H. E. IV. c. 7.
    ***) Tert. apolog. 16.  Iudaicae religionis propinquos.


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ihre Lehren in ganze Länder aus, da die frühern Ketzer sich fast nur auf einzelne Gemeinden beschränkt hatten. So wie Saturnin in mehreren Orten Syriens, so stiftete Basilides in mehreren Orten Aegyptens Schulen für seine Secte *). Wie bedeutend die Parthei des Basilides gewesen seyn muß, folgt schon daraus, daß sie noch im Anfange des fünften Jahrhunderts fortdauerte **). Am furchtbarsten wurden aber die Anhänger des Carpocrates, die selbst nach andern Ländern Missionare ausschickten und überall Jünger fanden. Carpocrates selbst blieb zwar in Alexandrien, aber Epiphanes, sein Sohn, wählte  S a m e  in Cephalenien zu seinem Aufenthalte und fand hier bleibende Verehrer ***); unter dem Anicetus kam sogar eine Marcellina nach Rom, und warb hier für den Carpocrates Anhänger +). Noch mehr Aufsehen als durch diese schnelle Ausbreitung machten aber diese Secten durch ihre praktischen Irrthümer, die zum Theil von der Art waren, wie sie gerade damals dem christlichen Geiste geradezu widersprachen, Allerdings sind diese von den spätern Häresimachen übertrieben; allein ganz erdichtet waren sie schwerlich, da selbst der mildere Clemens für sie zeuget, und man auch zuweilen ihren innern Zusammenhang mit dem dogmatischen Systeme jener Ketzer entdecken kann. Hierher gehört zuerst die Lehre des Basilides, daß es dem Christen erlaubt sey, seine Religion zu

    *) Euseb. h. e. IV, 7.  o men kata Surian, o de kat 0 Aigupton sunesthsanto qeomiswn airesewn didaskaleia.
    **) Epiphan. haer. XXIV. §. 1.
    ***) Clem. Alex. Strom. III. c. 2.
    +) Iren. I, c. 24.


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verläugnen, um dem Märtyrertode zu entgehen *). Vorzüglich aber mußte das Moralsystem des Carpocrates, das die Befriedigung jedes Naturtriebes erlaubte und die Weiber zur Gemeinschaft bestimmte, jedem Christen das höchste Aergerniß geben. Es lag also schon in der Sache selbst, daß alle christliche Gemeinden dahin streben mußten, diesem sich immer weiter verbreitenden Gifte, das nicht nur den Glauben, sondern auch alle Tugend gefährdete, und das ganze Christenthum von Grund aus zu zerstöhren drohte, sich entgegen zu setzen. Um so mehr wurden sie aber dazu gezwungen, da die Heiden oft den Christen im Allgemeinen die Laster vorwarfen, welcher sich insbesondere die Carpocratianer, die sich freilich auch Christen nannten, schuldig machten **). Sie mußten jene Irrgläubigen durchaus von sich ausscheiden, um den alten Ruf der Tugend und Frömmigkeit, der sie bis jetzt den Heiden ehrwürdig gemacht hatte, zu bewahren, und zu zeigen, daß sie mit jenen Verirrten nichts als den Namen gemein hätten. Sie mußten durch Widerlegungen der häretischen Meinungen die Gläubigen vor Verführung zu bewahren, und die Irrenden von ihrem Irrthume zu überzeugen suchen.
    Da die christlichen Gemeinden bis dahin ohne ein gemeinschaftliches Band, jede für sich unter ihrem Bischofe, bestanden hatten, so konnten die Masregeln, wel=

    *) Iren. I. c. 23.
    **) Euseb. h. e. IV. c. 7. tauth| d 0 oun epipleiston sunebaine thn peri hmwn para toij tote apistoij uponoian dussebh kai atopwtathn diadidosqai etc. (cf. Tert. apol. c. 7.  Minuc. Fel. c. 9. c et.[?]).


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che die Christen jetzt ergriffen, noch nicht von gemeinschaftlichen Berathungen ausgehen, sie führten aber allmählig zu der engern Verbindung der rechtgläubigen Gemeinden in einer katholischen Kirche hin. Zuerst traten einzelne Männer, die dazu den meisten Beruf in sich fühlten, auf, theils um die Ketzer zu widerlegen, dann aber auch, um die Heiden von der Beschaffenheit der christlichen Religion genauer zu belehren, und die Verwechselung derselben mit der jüdischen Religion und mit den ketzerischen Systemen zu verhüten. Daher zeigen sich um die Zeit des Auftritts jener Ketzer die ersten Apologeten  Q u a d r a t u s  und  A r i st i d e s *), die dem Hadrian in Athen ihre Schriften übergaben, und die ersten Häresimachen, die theils mündlich, theils schriftlich die Ketzer bestritten, von denen aber, obgleich Eusebius wiederholt ihre Mehrheit versichert **), nur  A g r i p p a  C a st o r  als Bestreiter des Basilides bekannt ist. Eusebius selbst hatte unstreitig nur wenig Quellen von diesen Zeiten, die meisten Schriften der damaligen christlichen Schriftsteller waren nicht auf ihn gekommen, und er kennt sogar nicht einmal ihre Namen mehr. Aber das giebt er deutlich zu verstehen, daß eben jene Ketzer, indem sie die Orthodoxen zur Vertheidigung anregten, die Ursache der nähern Verbindung der christlichen Kirchen und insofern des größern Glanzes derselben wurden. Indem er den Zustand der christlichen Kirchen vor dem Auftritte der Ketzer beschreibt, vergleicht er sie mit Ster=

    *) Euseb. h. e. IV, 3.
    **) Euseb. h. e. IV, 7.


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nen, die einzeln am Himmel glänzen *); nachdem er darauf erzählt hat, wie die Kirche zwar erschüttert, aber auch gestützt und vertheidigt sey, sagt er, daß sich unter diesen Kämpfen der Glanz der catholischen und allein wahren Kirche gemehrt und vergrößert habe **). Scheint es nicht, als ob er diese Einheit jener Mehrheit in dem bedeutenden Sinne entgegenstelle, daß sich unter jenen Kämpfen die Kirchen zu einer Verbindung geeinigt hätten? - Daß in die Zeit zwischen dem Auftritte jener Ketzer und zwischen Celsus (also zwischen 126. und 140.) diese nähere Verbindung der Kirchen falle, erhellt aus einer Aeußerung des Letztern, der schon eine  "g r o ß e  K i r ch e"  kennt, und sie von den Gnostikern unterscheidet ***).
    In diesem Streite gegen die Ketzer scheint sich aber auch zuerst das Bedürfniß gemeinschaftlicher Religionsurkunden, aus denen die häretischen Systeme widerlegt werden konnten, entwickelt zu haben. Die Orthodoxen mußten es nämlich in dem Streite bald merken, wie

    *) Euseb. l. c. hdh de lamprotatwn dikhn fwsthrwn twn ana thn oikoumenhn apostilbouswn ekklhsiwn k. t. l.
    **) l. c. prohei d 0 ej auchsin kai megeqoj aei kata ta auta kai wsautwj exousa h thj kaqolou kai monhj alhqouj ekklhsiaj lamprothj, to, te swfron kai kaqaron thj enqeou politeiaj te kai filosofiaj eij apan genoj Ellhnwn te kai barbarwn apostilbousa.
    ***) Celsus (ap. Orig. c. Cels. I. 5. pag. 489. C.)  Ergo idem Deus Iudaeorum est et istorum Christianorum videlicet: id fatetur magna ecclesia.  Nachher unterscheidet er diese von den Gnostikern, E:  Nemo me putet ignorare, quosdam Christianorum assensuros communem sibi esse cum Iudaeis Deum; quosdam vero dicturos diversum atque adeo contrarium, et ab illo venisse filium.


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sehr die Ketzer durch den Besitz kirchlicher Evangelien in den Augen Fremder ihnen überlegen erschienen. Bis dahin waren sie nicht gewohnt gewesen, ihre Dogmatik erst durch Interpretation aus dem Evangelio zu schöpfen, wie überhaupt bei einer Tradition genaue Interpretation nicht möglich ist, sondern sie folgten einer besondern dogmatischen Tradition, die sie ebenfalls von den Aposteln ableiteten. Wollten sie sich nun aber gegen die Ketzer auf diese Tradition berufen, so stellten ihnen diese nicht minder ehrwürdige Namen entgegen, von denen sie ihre Tradition ableiteten. Daneben hatten nun aber die Ketzer den Vortheil, der Unkundige blenden mußte, daß sie ihre Dogmatik auch aus ihrem schriftlichen Evangelio durch Interpretation erweisen konnten, während sie die blos mündliche historische Ueberlieferung der Orthodoxen eben deswegen leicht verdächtig machen konnten. So wurden nun die Orthodoxen gezwungen, darauf zu denken, mit denselben Mitteln zu widerstehen, und die apostolischen Syngraphen den Ketzern entgegen zu setzen. Vermuthlich geschah dieß also zuerst von den Häresimachen. Diese fanden in ihren Gemeinden und durch das Zeugniß derselben beglaubigt, einzeln die Evangelien der Apostel und apostolischen Männer vor, gebrauchten sie in ihren mündlichen und schriftlichen Widerlegungen der Ketzer, und konnten sie, da sie nicht selten zur Bestreitung der Ketzer Reisen unternahmen, um so eher weitern Kreisen bekannt machen. Wenn nun diese Schriften dadurch auch andern Gemeinden bekannt und lieb wurden, so mußten sich natürlich die Augen aller, besonders der asiatischen Christen auf die noch vorhandenen Schüler


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des Johannes, Papias und Polycarpus, richten, um deren Urtheil über dieselben zu erfahren. Obgleich beide über die Aechtheit und den Werth dieser Schriften wohl einverstanden waren, so scheint es doch, als ob sie über die kirchliche Einführung derselben verschieden gedacht hätten. Papias, dem alten Herkommen den Vorzug gebend, stimmte für die Beibehaltung der Tradition, welche allein ein  v o l l st ä n d i g e s  Evangelium enthielt, und schrieb deshalb über sie seine logiwn kuriakwn echghsij. Polycarp hingegen führte in seiner Gemeinde die vier Evangelien ein *), und sein Beispiel wirkte auf die meisten übrigen Gemeinden des westlichen Kleinasiens, und durch die gleichzeitig wachsende Verbindung der orthodoxen Gemeinden auch bald auf den Occident, namentlich auf Rom. Für die enge Verbindung dieser Stadt mit den asiatischen Gemeinden bürgt außer andern Spuren besonders die Reise, welche Polycarp in der Folge unter dem Anicetus (zwischen 152 und 158.) dahin unternahm **).
    Ein jeder Unbefangene mußte es einsehen, daß das Heil der Kirche durch die Canonisirung dieser vier apostolischen Syngraphen gewann. Einseitigkeit in der Benutzung der Tradition hatte die Ketzereien herbeigeführt,

    *) Vor dem Tode des Polycarp (167.) müssen in Smyrna und Ephesus die 4 Evangelien eingeführt seyn, denn nicht lange darauf beruft sich schon Irenäus auf diese Gemeinden. Wurden sie aber, während Polycarp Bischof war, eingeführt, so mußte sein Einfluß ungefähr ein solcher seyn, wie er hier beschrieben ist. Andere Gründe, durch welche dieß ebenfalls bestätigt wird, sind schon oben angedeutet.
    **) Euseb. H. E. IV. c. 14.


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der kirchliche Gebrauch Eines Evangeliums mußte aber nothwendig zur Einseitigkeit führen. Aus dem Evangelio Matthäi konnte den Ebioniten die höhere Natur Christi nicht so deutlich erwiesen werden, wie aus dem Evangelio Johannis; gnostische Träume zu widerlegen war wieder jenes mehr geeignet als dieses. Da alle vier Evangelien aber als kirchliche Schriften verbunden wurden, so war die Kirche von allen Seiten geschützt. Mit Recht nennt Irenäus daher dieselben die Säulen der Kirche *), jedes Einzelne stützte auf seiner Seite das Gebäude, und bewahrte es vor dem Versinken in Eine der Ketzereien.
    Nur daß es  v i e r  Evangelien waren, welche die Kirche annahm, dieß mußte sowohl bei Orthodoxen Bedenklichkeiten erregen, deren höchster Ruhm bis dahin die Einheit des Evangelii gewesen war, als es Ketzern eine Veranlassung zum Angriffe geben konnte. Und wirklich warfen diese es den Orthodoxen vor, daß diese 4 Evangelien gebrauchten, da es doch nur Eines gäbe, daß jene also verfälscht seyn müßten **). Daher bemühen sich nun die Kirchenväter zu zeigen, daß ihr Evangelium immer nur Eines, und nur viergestaltet, durch vier Zeugen überliefert, in vier Bücher vertheilt sey ***). Daher

    *) Iren. 3, 11.  quoniam - columna et firmamentum ecclesiae est Evangelium, et spiritus vitae, consequens est quatuor habere eam columnas.
    **) Orig. dial. c. Marc. dial. I. pag. 534. L.  Megeth. Contra arguo mendosa esse evangelia. Dicit enim apostolus unum evangelium, et vos memoratis quatuor.
    ***) Iren. 3, 11.  Verbum - - dedit nobis quadriforme (tetramorfon) evangelium, quod in uno spiritu continetur. - Orig. comm. in Ioh. T. II. p. 91. (ed. Huet.)  kai to alhqwj


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nannten sie auch die Sammlung der vier Evangelien, wie die frühere Tradition, an deren Stelle jene getreten waren, gewöhnlich to enaggelion [sic] *). Ja zur noch gründlichern Widerlegung bemühten sie sich wohl gar, wie Irenäus, die natürliche Nothwendigkeit von vier Syngraphen des Evangeliums dadurch zu erweisen, daß sie auf andere wichtige Gegenstände aufmerksam machten, die ebenfalls aus vier Theilen beständen **). So schal uns diese Art von Beweisen vorkommt, so waren sie damals doch zeitgemäß, was namentlich daraus erhellt, daß die Vergleichung der Evangelien mit den Cherubim die Sitte hervorbrachte, jedem Evangelisten eine von den Gestalten, aus denen die Cherubim bestanden, zuzutheilen.
    Da die Einführung der vier Evangelien übrigens ganz von dem Willen der einzelnen Bischöfe und Gemeinden abhing, und, insofern diese Schriften ganz an die Stelle der ihnen gleichen Tradition traten, durchaus keine Veränderung in der Kirche hervorbrachte; so darf es

dia tessarwn en esti euaggelion.  - Dial. c. Marc. I. l. c.  quatuor quidem sunt Evangelii scriptores, Evangelium autem unum.  - Ambros. Comm. in Luc. prooem.  Sic et nunc in N. T. multi evangelia scribere sunt conati, quae boni numularii non probaverunt.  Unum autem tantummodo in quatuor libros digestum ex omnibus arbitrati sunt eligendum.
    *) Iren. I, 3. 6.  Clem. Strom. V. p. 664. VI. p. 784. VII. p. 836.  Tert. de pudic. c. 11. 12. de baptismo 15.  Orig. hom. XIV. in Ierem. ed. Huet. p. 186.
    **) Iren. III, 11.  Neque autem plura numero quam haec sunt, neque rursus pauciora capit (i. e. licet) esse Evangelia.  Die Beweise dafür werden von den vier Weltgegenden, den vier Hauptwinden, den vier Gestalten der Cherubim u. s. w. hergenommen.


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es [sic] nicht befremden, wenn genauere Nachrichten über dieselbe fehlen.
    Jemehr sich allmählig die Verbindung der katholischen Kirche auch in andere Länder erweiterte, destomehr verbreitete sich durch die Macht des Beispiels diese Sammlung der Evangelien. Am frühesten folgte wohl das von den Ketzern am meisten beängstigte Aegypten und das übrige Africa nach. Wie wenig strenge Masregeln bei der Einführung derselben ergriffen wurden, und wie duldsam man sich dabei auch gegen andere Syngraphen erwies, wenn sie nur nicht geradezu Ketzereien beförderten, lehrt das Beispiel des Bischofs Serapion von Antiochien (des zweiten Bischofs nach dem Theophilus, welcher schon die vier Evangelien kannte) um 190. Da die Gemeinde von Rhossus in Cilicien das Evangelium Petri gebrauchte, wurde er im Anfange so wenig unwillig darüber, daß er dieß als etwas Gleichgültiges erlaubte, ohne einmal die Schrift gelesen zu haben *). Erst nachher, als es sich auswies, daß dieselbe docetische Irrthümer beförderte, verbot er sie.
    Auch die noch frühern Beispiele des Justin und Hegesippus gehören hierher, da dieselben, obgleich sie hebräische Evangelien gebrauchten, unter den Orthodoxen in Asien, Griechenland und Italien nirgends anstießen. Syrien scheint indeß überhaupt nicht mit Kleinasien und Rom gleichzeitig die vier Evangelien angenommen zu ha=

    *) Serapion. ap. Euseb. VI, 12.  mh dielqwn to up 0 autwn proferomenon onomati Petrou euaggelion, eipon: oti ei touto esti monon to dokoun umin parexein mikroyuxian, anaginwskesqw.


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ben. Theophilus spricht lange nach der Einführung der vier Evangelien in Kleinasien und Rom von diesen Büchern so wenig und auf eine solche Art, daß man schließen muß, um 180 seyen die Evangelien erst seit Kurzem in der Gemeinde von Antiochien eingeführt worden. In einigen Gemeinden Syriens müssen sogar statt jener andere Evangelien kirchliches Ansehen erhalten haben. Denn noch im fünften Jahrhunderte fand hier  T h e o d o r e t *) in orthodoxen Gemeinden das Tatianische Diatessaron, nahm über zweihundert Exemplare davon weg, und führte dafür die vier Evangelien ein.

    *) Theodoret. haer. fab. compend. l. I. c. 20.
 
 

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